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Das Sparschwein ist schon geschlachtet

Von Ingo Lehnick, Paris

Politik

Frankreichs Premierminister Lionel Jospin als Napoleon, der eine riesige Schatztruhe verstecken will; Jospin als Zauberer, der die gut gefüllte Kasse im doppelten Boden verschwinden lässt; oder | auch Jospin auf einem fetten Sparschwein davon reitend, damit es nicht geschlachtet wird: Das Polit-Theater um erhebliche Steuermehreinnahmen der letzten Wochen und Monate bietet den französischen | Karikaturisten derzeit reichlich Stoff. Zwar ist die zuletzt herrschende Goldgräberstimmung erst einmal abgeebbt, doch die Verteilungshysterie hält weiter an. Und das, obwohl das Sparschwein längst | geschlachtet ist.


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Die Debatte dreht sich um die so genannte "cagnotte" - ein Begriff, der im Deutschen mit Schatzkiste oder Geldsack wiedergegeben werden könnte. Insgesamt 30,7 Milliarden Franc (64,4 Mrd.

Schilling), so die offizielle Lesart, strich der französische Fiskus im vergangenen Jahr mehr ein als erwartet. Der unerhoffte Geldsegen weckte die Fantasie der Politiker wie der gesamten

Öffentlichkeit, zumal in der Vorwoche auch noch über die Höhe des Betrages wild spekuliert wurde. Die Liste der Wunschzettel wurde lang und länger, alle wollten etwas vom Kuchen abhaben.

Die Konservativen forderten umgehend Steuersenkungen nach dem Motto "Gebt den Franzosen ihr Geld zurück". Mit gutem Grund: Ende 99 erreichte die Steuerlast mit 45,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts

eine Rekordhöhe. Die Sozialisten von Premierminister Lionel Jospin wollten dagegen das Haushaltsdefizit abbauen. Auch sie mit guten Argumenten und prominenter Fürsprache: Es gehe doch nicht

darum, Geld unter die Leute zu bringen, sondern es seien nur etwas weniger Schulden gemacht worden, belehrte etwa Notenbankchef Jean-Claude Trichet. Frankreich ist immerhin das Land mit einem der

höchsten Defizite in der Euro-Zone.

Die dritte Alternative des Umgangs mit der cagnotte schließlich förderte den reichhaltigsten Ideen-Wettbewerb: das Geld einfach auszugeben. Kommunisten und Grüne etwa verlangten die Anhebung der

Sozialhilfe. Zahlreiche Verbände, Politiker, Geschäftsleute und selbst ernannte Ratgeber meldeten sich zu Wort. Es sollten mehr Krankenschwestern angestellt, Gefängnisse renoviert, das

Gesundheitswesen verbessert oder die Forschung mehr gefördert werden, hieß es beispielsweise.

So unterhaltsam diese Debatte scheint, so ernst wird sie doch geführt - und so vergeblich. Denn die 30,7 Milliarden Franc sind längst weg. Dies erklärt sich zum einen aus der nur

scheibchenweise offenbarten Wahrheit: Bis Dezember hatte Wirtschafts- und Finanzminister Christian Sautter bereits höhere Einnahmen von rund 24 Milliarden Franc (3,66 Mrd. Euro/50,4 Mrd. S)

verkündet, und das Geld wurde in Nachtragshaushalte gesteckt. Die restlichen 6,4 Milliarden wurden erst einen Monat nach Ablauf des Haushaltsjahres entdeckt - und damit automatisch zum weiteren Abbau

der Neuverschuldung verwendet.

Das alles hält die Franzosen aber nicht davon ab, weiter über den besten Umgang mit den zusätzlichen Milliarden zu streiten. Die Debatte konzentriert sich allerdings zunehmend auf die zusätzlichen

Gelder, die der Fiskus in diesem Jahr einstreichen wird. Für das Frühjahr kündigte die Regierung bereits einen Nachtragshaushalt an.

Finanzminister Sautter, der durch sein langes Versteckspiel um die Höhe der cagnotte erst zahlreiche Begehrlichkeiten geweckt hatte, will neue Spekulationen über den zu erwartenden Geldsegen im Keim

ersticken und versprach, Anfang März neue Zahlen für den Haushalt 2000 auf den Tisch zu legen. Allerdings heizte der hölzern wirkende Minister, der in den drei Monaten seiner bisherigen Amtszeit ein

eher blasses Bild abgibt, die Debatte stattdessen weiter an mit dem Versprechen, er werde einen "nicht unwesentlichen Spielraum" für Steuersenkungen bekannt geben können. Womit sich wieder all jene

bestätigt sahen, die Jospin und Sautter auf einem noch geheim gehaltenen Geldsack vermuten.