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Großbritannien winkt mit dem Zaunpfahl und steigt aus EU-Normen aus. Premier Camerons Politik ist aber umstritten.
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London. Großbritannien und die EU driften auseinander - nicht mehr nur rhetorisch, sondern substanziell: Nach einer hitzigen Parlamentsdebatte in London beschlossen die Konservativen von Premier David Cameron den Ausstieg aus 98 von insgesamt 133 EU-Normen aus dem Bereich Inneres und Justiz. Tory-Abgeordnete hatten noch mehr gewollt, nämlich das Kippen des Europäischen Haftbefehls. Nach stundenlangem heftigem Streit wurde das jedoch knapp abgewendet.
Cameron segelt mit seiner Partei auf einem Mittelweg zwischen europäischer Paktfähigkeit und dem Anti-EU-Kurs der Rechten in seiner Partei. Eingeengt in seinem Spielraum, sucht sich Cameron mit Finten, kuriosen Parlamentsmanövern und verschärfter Rhetorik zu den Unterhauswahlen im nächsten Mai durchzuschlagen. Camerons Kritiker werfen dem Regierungschef vor, aus Angst vor seinen Hinterbänklern und der rechtspopulistischen Anti-EU-Partei Ukip die Insel immer mehr in Richtung EU-Austritt zu steuern. Umfragen zufolge neigen derzeit schon mehr Briten zum Austritt als zum Verbleib in der Gemeinschaft.
Laut YouGov würden 44 Prozent aller Wähler zum jetzigen Zeitpunkt für ein Ende der britischen EU-Mitgliedschaft stimmen und nur 39 Prozent dagegen. Gelegenheit zur einer solchen Entscheidung will Cameron seinen Landsleuten in einem Referendum 2017 verschaffen - so seine Konservativen aus den Wahlen im kommenden Mai als Wahlsieger hervor gehen.
Vor dem Referendum will der Tory-Premier die EU allerdings zu Reformen zwingen, die unter anderem den Zuwanderungsfluss aus anderen EU-Staaten nach Großbritannien eindämmen sollen. Camerons Verteidigungsminister Michael Fallon hat dazu jüngst erklärt, man müsse in dieser Frage endlich etwas unternehmen, weil britische Städte von Immigranten "überschwemmt" würden und die Bewohner dieser Städte sich "belagert" fühlten.
Ukip hat der Regierung seit langem vorgehalten, nur ein Austritt aus der EU verschaffe den Briten wieder "die Hoheit über ihre eigenen Grenzen". Und bisher hat Cameron offen gelassen, ob er sich mit einer neuen EU-Vereinbarung etwa zur Begrenzung von Sozialhilfe-Zahlungen an EU-Migranten zufrieden geben würde. Ein Teil seiner Partei erwartet jedenfalls, dass eine britische Regierung den Zuzug generell über Kontingente reguliert. Eine solche einseitige Einschränkung der Personen-Freizügigkeit würde andererseits der Rest der EU nicht hinnehmen. Das hat vor kurzem auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel signalisiert.
EU-Mitgliedschaft nützt Großbritannien
Im Kanzleramt war Ende Oktober Besorgnis laut geworden, dass Großbritannien gefährlich auf "den Punkt" zusteuere, "an dem es kein Zurück mehr gibt". Die Briten, war aus Berlin zu hören, dürften sich nicht darauf verlassen, dass die EU sie "um jeden Preis" als Mitglied haben wolle.
Zuvor hatte schon der scheidende EU-Kommissions-Präsident José Manuel Barroso bei einem Vortrag in England Cameron vorgeworfen, er begehe "einen historischen Fehler", wenn er den Nutzen der EU für sein Land nicht offensiv verteidige - und dafür sorge, dass die Leute "nicht immer nur Negatives" über die EU zu lesen und zu hören bekämen. Außerhalb der EU wäre Großbritannien irrelevant, sagte Barroso. Das müsse man auch in London sehen.
Einem Bericht des University College London zufolge zieht Großbritannien in der Tat erheblichen finanziellen Nutzen aus dem Zustrom aus der Rest-EU. Rund 20 Milliarden Pfund mehr sollen EU-Migranten in den zehn Jahren nach 2001 in die britische Staatskasse eingezahlt haben, als ihnen im selben Zeitraum aus dieser Kasse zufloss. Zu Beginn dieser Woche drängte der Britische Industriellenverband (CBI) Cameron denn auch beharrlich dazu, die Briten nicht "von der Welt abzuschotten". Die EU-Mitgliedschaft liege "überwältigend in unserem nationalen Interesse", sagte der Verband.
Das hatte auch Cameron vor drei Jahren noch so gesehen. Inzwischen vertritt der Briten-Premier freilich die Überzeugung, dass Großbritannien "nicht koste es, was es wolle" EU-Mitglied bleiben dürfe. Der weitere Verbleib hänge von der Reformbereitschaft Europas ab, meint Cameron. Außenminister Philip Hammond kündigte kürzlich an, er wolle "ein Feuer unter der EU anzünden", um die Europäer auf Trab zu bringen.
Cameron unter Druck seines rechten Parteiflügels
Im Rahmen ihres Versprechens, London stärker von Brüssel abzukoppeln und Befugnisse nach Britannien "zurückzuholen", hatte die britische Regierung im Vorjahr bereits über 130 EU-Justizvereinbarungen aufgekündigt. In 35 dieser Vereinbarungen will man sich nun aber, vor dem 1. Dezember, wieder "einkoppeln" - gegen den Willen der Tory-Rechten, denen zum Beispiel das Mittel des Europäischen Haftbefehls zu weit geht. Mit ihrem Ab- und Wiederankoppeln hat sich Camerons Regierung dabei auf immer komplizierte Manöver eingelassen. Diese Woche suchte sie eine Rebellion ihrer "Euroskeptiker" gegen den Europäischen Haftbefehl durch parlamentarische Finessen zu verhindern - mit dem Ergebnis wütender Tiraden dutzender Hinterbänkler und chaotischer Szenen im Unterhaus.