Die FPÖ will wieder mehr direkte Demokratie. Im Wahlkampf 2017 war das für sie Koalitionsbedingung. | Nach der Ibiza-Affäre war eine türkis-blaue Reform passé. Eine wirkliche Stärkung der Bürger war ohnehin nicht geplant.
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Wien. Plötzlich war Sebastian Kurz seine Kanzlerschaft los. Ein wenig unlocker im Gang und mit leichtem Lächeln im Gesicht winkte er den Parteirängen im Parlament zu, ehe er durch eine Traube von Parteimitarbeitern das Hohe Haus verließ. Sozialdemokraten, Freiheitliche und die Liste Jetzt hatten Kurz zuvor das Misstrauen ausgesprochen und abgewählt. Der Ex-Kanzler quittierte seine bisher größte politische Niederlage mit den dramatischen Worten: "Heute hat das Parlament entschieden, aber am Ende entscheidet das Volk."
Was ist das Volk? Im Parlament sitzen vom Volk gewählte Politiker. Laut Artikel 1 der Bundesverfassung geht "das Recht vom Volk aus". Kurz wurde für seinen Sager deshalb kritisiert. Er spiele das Parlament gegen das Volk aus. Darüber hinaus konstruiere er ein homogenes Volk, das es so gar nicht gebe, und der Slogan lege nahe, dass nur er es vertrete.
Die Rolle des Volks scheint aus Sicht der Politik auch an anderer Stelle nicht so klar: beim Ruf nach mehr direkter Demokratie. Diese hat sich von einer Hoffnung für eine neue Politik nach und nach zu einem Spielball für Populisten entwickelt. Die Grünen, die aus Bürgerinitiativen hervorgingen, setzten sich zunächst allein schon aufgrund ihres politischen Selbstverständnisses der Basisdemokratie dafür ein. Mit dem einstigen Kärntner Landeshauptmann und FPÖ-Chef Jörg Haider und seinem Anti-Ausländer-Volksbegehren erkannten die Blauen die direkte Demokratie als populistisches Vehikel für sich und wollten schon über EU-Austritt und Euro abstimmen lassen. Im laufenden Wahlkampf preschte der designierte FPÖ-Chef Norbert Hofer mit der Forderung der Blauen vor. Von Kurz kommt dazu bisher aber nichts. Das war nicht immer so.
Ein österreichischesZahlenspiel
Im Wahlkampf 2017 waren für Kurz und seine ÖVP sowie für seinen ehemaligen Koalitionspartner FPÖ der Ausbau von Volksbegehren und Volksabstimmung noch zentrale Themen. Für die ÖVP war das neu. In jahrzehntelanger Koalition mit der SPÖ und stabilen Mehrheiten sahen die ehemaligen Großparteien das Volk nach Wahlgängen durch sich selbst gut genug repräsentiert. Die Junge ÖVP unter Kurz setzte sich 2012 für mehr direkte Demokratie ein. Als Frontmann der Bundespartei machte er sie zur Parteilinie.
Die FPÖ machte die Forderung nach mehr direkter Demokratie nach Schweizer Vorbild sogar zur Koalitionsbedingung. Jener Punkt schaffte es auch ins Arbeitsprogramm der ehemals türkis-blauen Regierung. Die Pläne wurden aber auf das Ende der Legislaturperiode 2022 verschoben. Nach der Ibiza-Affäre war die Sache erledigt.
ÖVP und FPÖ diskutierten auf Bundesebene erstmals darüber, ab welcher Zahl von unterzeichneten Wahlberechtigten Volksbegehren bei Nichtbehandlung des Parlaments zu einer Volksabstimmung führen sollten. Die ÖVP versprach eine Hürde von zehn Prozent, also etwa bei 640.000 Unterschriften Wahlberechtigter, die FPÖ setzte das Limit bei 250.000 fest. Geeinigt hat man sich im Wahlprogramm auf die viel höhere Zahl von 900.000 Wahlberechtigten. Im laufenden Wahlkampf will die FPÖ ein Limit von rund 600.000 als Voraussetzung für eine Volksabstimmung.
Den Neos schwebt ein schrittweiser Ausbau der direkten Demokratie von der Gemeindeebene aufwärts vor. Die Liberalen denken wie die ÖVP eine verpflichtende Volksabstimmung ab etwa 640.000 Wahlberechtigten an.
Bei den Grünen wird dieses Thema nach außen hin nicht mehr ganz so offensiv wie früher behandelt. Bei hoher Zustimmung für eine Initiative wollen sie verpflichtend die Einrichtung eines Unterausschusses im Parlament, eine Volksabstimmung oder zumindest eine Volksbefragung.
Die SPÖ, die immer gegen einen direkten Weg von der Petition am Parlament vorbei zur Volksabstimmung war, setzte sich für eine eben solche beim "Don’t smoke"-Volksbegehren ein. Die Liebe zur direkten Demokratie scheint offenbar davon abzuhängen, ob sie einem gelegen kommt.
Wie schnell diese Liebe verblassen kann, war bei ÖVP und FPÖ zu sehen. Das "Don’t smoke"-Volksbegehren blieb mit 881.569 Unterschriften nur knapp unter der von der Regierung präferierten Grenze von 900.000. Türkis-Blau setzte sich über das Ergebnois aber hinweg, weil sie das generelle Rauchverbot aufheben wollte.
Direkte Demokratiefür die Parteien
Eine wirkliche Ermächtigung des Bürgers stand unter Türkis-Blau nicht zur Debatte, konstatiert Tamara Ehs, Politikwissenschafterin an der Universität Wien. Aus ihrer Sicht geben die Regierenden so nur "scheinbar Macht an die Bürger ab". Die Zügel der Themensetzung bleiben bei den Parteiapparaten, die in der Regel auch mehr Mobilisierungskraft und Geld für Kampagnen haben. "Eigentlich geht es darum, sich ein zusätzliches Mandat des Volkes zu holen, womit eine Entscheidung höhere Legitimation bekommt und in Zukunft schwerer zu ändern ist", sagt Ehs.
In Österreich habe es Tradition, dass direkte Demokratie "als Parteieninstrument" verstanden werde, so Ehs. Auch abseits des Wahlkampfs sammelten Parteien so Aufmerksamkeit. Die FPÖ ("Anti-Ausländervolksbegehren") hätte als Oppositionspartei damit an Größe gewonnen. Auch die Grünen (Tierschutz 1996, Gentechnik 1997) nutzten Volksbegehren. Wenig überraschend ist es, dass nur drei Volksbegehren in der Zweiten Republik die 900.000er-Hürde überwinden konnten und diese von Parteien getragen waren. Das erfolgreichste Volksbegehren war mit fast 1,4 Millionen Unterstützern jenes gegen den Bau des Wiener Konferenzzentrums 1982 - initiiert von er ÖVP. Es wurde dennoch gebaut.
Vorsichtsmaßnahme gegen letztgültige Entscheidungen
Viele politische Entscheidungen lassen sich schwer auf "Ja" und "Nein" beschränken. Für Ehs besteht die Gefahr, dass die direkte Demokratie "als populistisches Instrument vereinnahmt" werden könnte, wie das Brexit-Referendum Großbritanniens zeigte. Der Grund dafür waren die Zerrissenheit der Tories und die Unfähigkeit ihres ehemaligen Parteichefs David Cameron, den Streit zu schlichten.
Die Skepsis gegenüber der direkten Demokratie sei kein Misstrauen gegenüber dem Volk, sagt Ehs. In vielen repräsentativen europäischen Demokratien seien nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Institutionen als Vorsichtsmaßnahme vor letztgültigen Entscheidungen eingerichtet worden, "immer mit der Möglichkeit zu revidieren".
"Dort beginnen, was ichjeden Tag erlebbar habe"
Der Politikwissenschafterin Ehs fehlt eine breitere Diskussion darüber, wie man die Politik zwischen den Wahlen erreichen könne. Über viele Möglichkeiten, die es jetzt schon gibt, wüssten die Bürger viel zu wenig. Etwa, dass sie mit 500 Unterschriften eine Bürgerinitiative an das Parlament oder eine Petition an den Wiener Landtag richten können. In Oberösterreich wurden 2015 per Gesetz die Hürden für eine Volksbefragung auf Gemeinde- und Landesebene drastisch gesenkt. Vier statt acht Prozent der Oberösterreicher können eine solche erwirken. In den Kommunen entscheidet die Einwohnerstärke über den Prozentsatz. Diese Ebene werde generell zu wenig betrachtet, so Ehs. Dabei sollte man dort beginnen, "was ich jeden Tag erlebbar habe". Das könne man auf Bundesebene dann ausbauen.
Einen anderen Weg geht das Land Vorarlberg mit Bürgerräten, die von den Bürgern mit nur 1000 Unterschriften selbst initiiert werden können. 2015 sei versucht worden, an einem Wochenende Asylfragen in einer Diskussion zu klären. Heute sehe man, dass die Vorarlberger eine "weniger populistische und von Angst behaftete Position" einnehmen würden.