KGBler müssten Reformen endlich angehen, doch Zweifel sind angebracht.
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Moskau. Am Ende rennen die Menschen durcheinander, manche schreien, wischen sich das Blut aus dem Gesicht, von den Armen, Beinen. Was mit einem friedlichen Marsch gegen die Macht des neuen Präsidenten Wladimir Putin begann - heute, Montag, soll er offiziell ins Amt eingeführt werden -, endete am Sonntag mit Gewalt, hunderten von Festnahmen und Verletzten. Das Familienfest mit bunten Fahnen und Plakaten versank im Chaos.
Russlands Opposition hatte einen "Marsch der Million" angekündigt, aus allen Städten des Landes hätten die Unzufriedenen in die Hauptstadt kommen sollen. Die Moskauer Stadtverwaltung erlaubte aber lediglich 5000 Demonstranten. Gekommen waren 8000 Menschen, sagt die Polizei; 100.000, sagen die Veranstalter. Es war ein Treffen, wie es sie seit den Parlamentswahlen im Dezember immer wieder gegeben hat. Ein paar Sprechchöre "Russland ohne Putin" hier, ein paar Plakate à la "Wowa, wir sind müde von dir, geh endlich" da. Nur die unerbittliche Kälte aus den Wintertagen war sommerlichen Sonnenstrahlen gewichen.
Nach zwei Stunden wendete sich die Situation. Es flogen Steine, es stiegen Rauchwolken auf. Der Vorwurf vom Gaseinsatz der Polizei stand im Raum. Nun rätseln Russlands Menschenrechtler, aber auch Russlands Polizei, wie es zu den Ausschreitungen und dem brutalen Einsatz der Sondereinheiten gekommen ist. Der designierte Präsident weilte derweil in einem Kloster, um eine Kerze für den Heiligen Wladimir anzuzünden.
Es gibt verschiedene Versionen, und doch geht alles auf die Drohkulisse des Staates zurück. Tausende von Polizisten, Dutzende von gepanzerten Wagen hatten das Stadtzentrum abgeriegelt. In Kolonnen stellten sie sich auf, einige Metrostationen waren gesperrt. "Das ist eine Stadt in der Stadt. Die Macht verbarrikadiert sich", sagte ein Demonstrant am Rande der Versammlung, bis auch er später von den Sondereinheiten mit Schlagstöcken eingekreist war. Die Menge schrie "Schande!" und forderte Zugang zum Fernsehen, das vom Kreml kontrolliert wird.
Oppositionspolitiker wie Sergej Udalzow von der Linken Front, Ex-Vizeregierungschef Boris Nemzow und der bekannte Blogger Alexej Nawalny riefen daraufhin die Menge zu einem Sit-in auf. Die Polizei fasste das als Provokation auf und griff teils wahllos nach den Demonstranten, schlug zu, schleifte sie in die Busse am Rande. Auch Udalzow, Nemzow und Nawalny wurden festgenommen. Zudem kam es zu einem Unglück, als ein Mann, aus dem Fenster gelehnt, Bilder von der Demo machen wollte. Er stürzte in die Tiefe und starb.
"Egal, was da auf der Straße passiert ist, wer sich durch wen herausgefordert fühlte, ein solch gewaltsames Eingreifen der Polizei muss aufgeklärt werden", sagte der Vorsitzende des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten, Michail Fedotow, später auf "Radio Swoboda".
Die Anspannung vor der Amtseinführung Putins wird immer größer. Noch am Abend blieben einige tausend Demonstranten auf dem Platz und erklärten, sie würden ihn nicht verlassen. Die Polizei räumte den Ort. Gewaltsam.
Dennoch: Das Russland, das Putin nun regieren wird, ist ein anderes geworden, als es vor acht, ja auch noch vor vier Jahren war. Der neue Präsident steht vor einem Dilemma, in der Politik wie in der Wirtschaft.
Russischer Balanceakt
Die Probleme sind jedenfalls enorm. Das Rentensystem muss reformiert werden, das Bildungs- und das Gesundheitssystem auch, die Kaukasus-Politik überdacht, die Justiz, die Wirtschaft modernisiert und so nebenbei auch die stalinistisch-sowjetische Vergangenheit bewältigt werden. Kurz: Die ganze Gesellschaft braucht eine Erneuerung. Das weiß auch Putin, eigentlich. Der Geheimdienstler aber, dem das Verständnis von einem "mündigen Bürger" fremd ist, bemüht oft die Rhetorik, die in der Vergangenheit stecken geblieben ist, wenn er überall Spione wittert und dem Westen vorwirft, sich unrechtmäßig in die Angelegenheiten Russlands einzumischen. Seine Stärke aber hat der sich mit markigen Sprüchen gern als Macho in Szene setzende Kreml-Chef verloren, Konzeptlosigkeit macht sich breit, auch wenn auf etlichen ausgearbeiteten Papieren hervorragende Ideen stehen, stets mit präzisen Worten untermalt. Nur: Die Schönrednerei in den gelenkten Fernsehnachrichten nehmen viele Russen längst als das wahr, was sie ist: Lobhudelei und Imitation von Reformen.
Sicher, Putin ist immer noch der beliebteste Politiker im Land. Knapp 64 Prozent der Wähler hatten am 4. März offiziell für den 59-Jährigen gestimmt. Die meisten Wähler machten ihr Kreuz bei Putin aber nicht aus emotionalen, sondern aus rationalen Erwägungen, wie das staatsnahe Allrussische Meinungsforschungszentrum Wziom in seiner jüngsten Erhebung zeigt. Die verlorene Aura des Alleskönners, diese nüchterne Entscheidung der Wähler bergen für den neuen alten Kreml-Chef ein Risiko. Fehlschläge und Versäumnisse dürften ihm die Russen nicht mehr so schnell verzeihen wie früher. Zumal die alten Rezepte - teure Wahlgeschenke wie mehr Geld für Rentner, Staatsangestellte und die Rüstung - nicht mehr ausreichen werden, um die Probleme zu übertünchen.
Die kommenden sechs Jahre werden für Putin deshalb zu einem Balanceakt: Lässt er seine autoritäre Machtvertikalen-Politik und seine feudalistische Struktur der Wirtschaft unverändert, büßt Russland weiter an Wettbewerbsfähigkeit ein. Liberalisiert er das System Putin, verliert er Teile der Stammwähler und der Elite. Also bleibt zunächst wohl alles beim Alten.