Zum Hauptinhalt springen

Das Tier als Subjekt

Von Jeannette Villachica

Reflexionen

Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier wird in Wissenschaft, Literatur und Ausstellungswesen neu ausgelotet. - Eine andere Perspektive auf die Welt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Noch bis 2. April können Besucher des Naturhistorischen Museums in Wien die Welt mit den Sinnen von "Hund & Katz", so der Titel der entsprechenden Sonderausstellung, erleben. Spiele und Computeranimationen, bei denen der Mensch auch in die Haut der Vierbeiner schlüpfen kann, sollen einen Vergleich der körperlichen Fähigkeiten ermöglichen, Informationen über Körpersprache und Lautäußerungen vermitteln und so zu einem besseren Verständnis des Verhaltens der mindestens 600.000 Hunde und 1,5 Millionen Katzen in Österreich beitragen.

Die Erkundung von Tierwelten liegt im Trend, nicht nur im Ausstellungswesen. Im deutschsprachigen Raum entstehen seit einigen Jahren immer mehr Projekte im interdisziplinären Forschungsfeld "Human-Animal-Studies", das sich mit dem Verhältnis von Mensch und Tier auseinandersetzt. Neu dabei ist, dass "das Tier als Subjekt, Akteur und Indivi- duum in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und nicht nur als kultureller Gegenstand oder Symbol menschlicher Gesellschaften betrachtet wird", wie es in "Human-Animal-Studies", einer bei UTB erschienenen Einführung für Studierende und Lehrende, heißt.

In Wien befasst man sich unter anderem an der Veterinärmedizinischen Universität und am Institut für Philosophie der Universität mit der Erforschung von tierethischen Fragen und von Schnittpunkten und Wechselwirkungen zwischen tierischen und menschlichen Gesellschaften.

Das gestiegene Bewusstsein, dass Tiere unabhängig vom Menschen ihre eigenen Existenzen und Lebensweisen haben und es nicht nur eine Welt aus Menschenperspektive, sondern viele Welten aus Tierperspektiven gibt, hängt auch mit Veränderungen in Gesellschaft und Wissenschaft zusammen. Ökologische Fragen rund um Massentierhaltung, Insektensterben, gesunde Ernährung und ethische Fragen wie die rund um Tierrechte, die Vermenschlichung von Haustieren, die Ausbeutung von Nutztieren und die Bekämpfung sogenannter Schädlinge bewegen größere Bevölkerungsschichten als früher.

In den Human- und Sozialwissenschaften geraten nicht mehr nur Formen der Hochkultur, sondern auch zunehmend Alltagskultur und populäre Kulturformen in den Fokus, was zu neuen Blickwinkeln und kritischer Hinterfragung bisheriger Ansätze führt. Die ebenfalls recht jungen "Science and Technology Studies" stellen den herkömmlichen Natur-Kultur-Dualismus in Frage und zeigen über die Verflechtungen technologischer, biologischer und menschlich-sozialer Systeme auf, dass der Mensch in diesem System nicht allein Handelnder ist.

Immer mehr Menschen nehmen Tiere als Wesen wahr, die ein Bewusstsein, einen Willen und Gefühle haben. Entsprechend wurden Tierschutzrechte in vielen Ländern in den letzten Jahren ausgeweitet: So dürfen Pferde in Dänemark nur noch in Gruppen gehalten werden, damit sie ihr natürliches Herdenverhalten ausleben können. Weltweit versuchen Zoos, Tiere in ihrer angestammten Lebenswelt zu präsentieren, auch Dokumentationen und Sachbücher über tierische Lebenswelten werden immer beliebter.

Der Verhaltensbiologe Jonathan Balcombe ist gebürtiger Brite, forscht in den USA und gilt als Experte für das Empfindungsvermögen von Tieren. In seinem gerade erschienenen Buch, "Was Fische wissen", führt er plastisch und unterhaltsam unter anderem das Lieben, Spielen, Planen und die erstaunlichen Fähigkeiten der Wahrnehmung und körperlichen Anpassung unserer aquatischen Verwandten vor Augen. Der Leser lernt, dass die bisher rund 33.249 gezählten Fischarten fast ausnahmslos über die zehn Körpersysteme verfügen, die auch auf dem Land lebende Wirbeltiere besitzen, und dass ein Thunfisch viel enger mit dem Menschen verwandt ist als etwa mit einem Hai.

Mehr Mitgefühl

Es ist Balcombe ein Anliegen, "den Fischen auf eine Weise eine Stimme zu geben, wie es bislang nicht möglich gewesen ist". Dank verschiedener Durchbrüche in der Verhaltensforschung, Soziobiologie, Neurobiologie und Ökologie "können wir heute besser als je zuvor verstehen, wie die Welt in den Augen der Fische aussieht, wie Fische die Welt sehen, fühlen und erfahren", schreibt er und erhofft sich durch diese Erkenntnisse mehr Mitgefühl und Schutz.

Fische seien die am stärksten ausgebeutete Wirbeltierklasse der Erde und "die meisten sterben keinen schönen Tod". Zudem müssten Fische endlich als Individuen wahrgenommen werden, jeder einzelne Fisch sei äußerlich einzigartig und habe auch aufgrund seiner Biografie und Erfahrungen ein einzigartiges Innenleben. Wer dies versteht, kann vielleicht eine neue Beziehung zu diesen wundervollen Lebewesen aufbauen. Zugleich regt dieses Wissen an, über den menschlichen Einsatz unserer Sinne an Land und im Wasser nachzudenken.

Um das komplexe Seelenleben von Tieren und ihre Wahrnehmung als Individuen geht es auch in dem neuen Buch des deutschen Journalisten Jürgen Teipel. "Unsere unbekannte Familie" umfasst sehr kurze und längere, immer wahre Geschichten von flüchtigen Interaktionen und längeren Beziehungen zwischen Mensch und Tier, die unseren Blick auf die Tierwelt verändern können. Geschichten wie die von einer ganz jungen Amsel, die Erika Orth aus München bei sich aufgenommen hatte, fütterte, und die immer zahmer wurde, sich mit Hund und Katze in der Wohnung anfreundete und, selbst nachdem sie flügge wurde, immer wieder zurückkehrte.

Oder die von dem Esel, der nach dem Urlaub seines Besitzers so lange bockte, wie der zuvor im Urlaub gewesen war. Seit er sich immer ordentlich von ihm verabschiedet, gibt es keine Probleme mehr. In einer nächsten Geschichte führt eine Katze tagelang Freudentänze auf, als die Frau, die ihr einst das Leben gerettet hatte, nach zwei Monaten Abwesenheit zurückkehrt. Rührend auch die Geschichte von dem sieben Meter langen Glattwalbaby, das einen Taucher zu einer Rutschpartie auf seinem Rücken einlädt, nachdem seine Mutter zuvor auf dieselbe Weise mit ihm gespielt hatte. Man staunt über die faszinierenden Fähigkeiten der Tiere, ihre Treue und Launen und ihre Art der Kontaktaufnahme zu anderen Tieren und zum Menschen. In manchen dieser Geschöpfe scheint zeitweilig die Grenze zwischen Mensch und Tier aufgehoben.

Warum interessieren sich Menschen überhaupt so sehr für das Leben von Tieren? Ob aus der realen Welt oder der fiktionalen? Die Stuttgarter Literaturwissenschafterin Alexandra Tischel untersucht in Ihrem Buch "Affen wie wir - Was die Literatur über uns und die nächsten Verwandten erzählt", wie klassische Autoren, etwa E. T. A. Hofmann, Edgar Allan Poe und Franz Kafka, bzw. zeitgenössische Schriftsteller wie J. M. Coetzee, Peter Hoeg und Yann Martel sich mit Affen auseinandersetzen, um über die wichtigen Fragen des Menschseins zu schreiben: Wie lieben, töten und trauern wir? Worin unterscheiden wir uns von und worin ähneln wir Affen dabei?

Inspirationsquelle

Das Tier dient uns als Inspirationsquelle, um die eigene Identität zu definieren, eine instinktive Verbindung zur Natur zu finden, die uns vielfach abhanden gekommen ist, oder um durch den Blick des Tiers eine frische Sicht auf unsere Welt zu erhalten. Letzteres geschieht natürlich auch in und durch die Bildende Kunst. Die Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main zeigt ab 1. November 2018 in der Ausstellung "WILDNIS" Kunstwerke von 1900 bis zur Gegenwart; darin soll auch das Verhältnis von Mensch und Tier neu verhandelt werden.

Ganz neue gedankliche Querverbindungen entstehen, wenn Kunstwerke nicht in Museen gezeigt werden, sondern in wissenschaftlichen Sammlungen. Ein gelungenes Beispiel hierfür war die Ausstellung "D’ailleurs c’est toujours les autres" (dt. "Übrigens sind es immer die Anderen", Anm.), die bis Ende Jänner 2018 in Lausanne lief. Die Ausstellungsmacher hatten Werke des chinesischen Künstlers Ai Weiwei, die teilweise spe-ziell für diese Schau entstanden waren, unter anderem in Vitrinen mit Tierpräparaten eingeschleust und so neue Kontexte geschaffen.

Auf ähnliche Weise greifen noch bis 29. März im Hamburger Zoologischen Museum die Betrachtung realer, aber toter Tiere und das Erleben audiovisueller Installationen, von Fotografien, Filmen und Skulpturen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler in der Ausstellung "Verschwindende Vermächtnisse: Die Welt als Wald" ineinander. Wer sich lieber mit Haustieren beschäftigt, hat nach dem Ende der Wiener Ausstellung "Hund & Katz" ab 1. Juli im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden dazu Gelegenheit.

Literatur:

Kompatscher/Spannring/ Schachinger: Human-Animal-Studies. Eine Einführung für Studierende und Lehrende. UTB, Waxmann Verlag, Münster/New York 2017, 264 Seiten, 24,99 Euro.

Jonathan Balcombe: Was Fische wissen. Aus dem Englischen von Tobias Rothenbücher. Mareverlag, Hamburg 2018, 336 Seiten, 28,- Euro.

Jürgen Teipel: Unsere unbekannte Familie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 286 Seiten, 18,50 Euro.

Alexandra Tischel: Affen wie wir. Was die Literatur über uns und unsere nächsten Verwandten erzählt. J. B. Metzler, Stuttgart 2018, 218 Seiten, 12 Abbildungen, 19,99 Euro.

Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt als Kultur- und Reisejournalistin in Hamburg.