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Das übermächtige digitale Gedächtnis und seine Löcher

Von Franz Zauner / WZ Online

Wirtschaft

Die größte Freude der Menschheit muss das Speichern sein. Würde man alles, was in einem Jahr weltweit gespeichert wird, auf DVD's pressen, ließe sich daraus ein gewaltiger Berg aufstapeln, der 5000 Mal höher wäre als der Mount Everest. Emails, Webseiten, Bilder, Filme, Musik, Telefonate - das alles zeitigt zahllose Folgen aus Nullern und Einsern, die aufbewahrt werden wollen.


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Spätestens 2010, besagt eine düstere Prophezeiung des US-amerikanischen Trendforschungs-Instituts IDC, fallen auf Erden 988 Exabytes an Daten an. Das sind etwa 1 Billion Gigabytes. Es wird aber nur Speicherplatz für 601 Exabytes zur Verfügung stehen. Die Speicherwut stößt also an Grenzen. Bestimmt wird sich für das Problem eine Lösung finden, wie schon einst beim Milleniums-Bug. Dennoch scheint das Speichern die menschliche Tätigkeit mit dem am schnellsten wachsenden Desaster-Potential zu sein. Im Jahre 2009 könnte uns das auffallen.

Man schätzt, dass auf jeden Erdenbürger 24 Gigabyte Speicherplatz kommen. Aber alle wollen ja noch mehr Daten: die Finanz, die Polizei, die Firmen. Daten erleichtern das Planer-Leben, werfen aber lange Schatten. Wer wie viel davon sieht oder sehen sollte, bleibt eine offene Frage. Tatsache ist, dass in einem expandierenden Paralleluniversum elektronische Zerrbilder von uns allen frei herumlaufen.

Ein Interpretationsfehler da, ein Datenleck dort, plötzlich ist man schlecht angeschrieben und weiß nicht warum. Deshalb kann es nicht schaden, den Datenschatten ab und zu hinterher zu googeln. Google ist die Festplatte unseres Planeten. Da es für nahezu jeden Bedarf ein Google-Service gibt, liegt auf den 500.000 Google-Servern vom intimen Geständnis bis zum geheimen Projekt so gut wie alles von jedem, auch die Geheimnisse jener Leute, die von sich behaupten, keine Geheimnisse zu haben.

Auch im neuen Jahr wird die Datenbank die einzige Bank sein, die keine Krise kennt. Sie lockt zwar nicht mit Zinsen, ist aber unwiderstehlich. Ein Gewinnspiel, eine Verlosung, ein Rätsel reichen, und schon beginnt der User, von Daten nur so zu sprudeln: Name, Geburtsdatum, Adresse, Lebenslauf und Werdegang rückt er anstandslos heraus. Daraus lassen sich Vorlieben und Eigenheiten, Wünsche und Sehnsüchte, Torheiten und Schwächen ab- oder herauslesen und bestens verwerten: Die Datenbank ist der Goldesel der Informationsgesellschaft.

Woher nur kommt dieses Faible fürs Speichern? Vielleicht ist es ein Restbestand der sammelnden Steinzeit-Existenz. Sammeln, dieser Gedanke fällt jedem Menschen leicht, ist immer gut. Auf dieser geistigen Grundlage dürfte auch die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung aufbauen.

Das uferlose Speichern der Verbindungsdaten von allen Mobiltelefonen und Internetanschlüssen wird allein in Österreich zwei-, wenn nicht dreistellige Millionensummen kosten. Das leichtfertige Abfragen dieser Daten wird für Skandale sorgen. Wenn in jedem Kiosk Artikel aushängen, die beschreiben, wie man digitale Spuren verwischt, dann werden vermutlich nur mäßig intelligente Verbrecher Spuren hinterlassen. Der Datenvorrat hat gute Chancen, als eine Art Bierdeckelsammlung im Exabyte-Format zu enden. An eine ordentliche, geregelte Ausbildung für Cyberpolizisten hat indes noch kein Politiker gedacht.

Der User aber könnte durchaus etwas weniger vertrauenselig sein. Kreditkarten, Kontendetails, Userprofile, - es gehen so viele Daten auf der Welt verloren, dass es höchste Zeit war, die Berichte darüber in einer Datenbank zu sammeln. Diesen Zweck verfolgt die "Data Loss Database", ein an sich beunruhigendes Service, weil es Tausende Fälle dokumentiert. Kürzlich wurde es um einen dunklen Punkt erweitert: Unter "Primary Sources" werden jene dezent verschwiegenen Datenverluste zusammengefasst, die bisher keinen Weg in die Medien fanden.

Mit dieser Initiative will die "Open Security Foundation", eine digitale Bürgerrechtsbewegung für mehr Datensicherheit, endgültig die "Eisberg-Theorie" beweisen: Wird irgendwo in eine Datenbank eingebrochen, versuchen das die Betroffenen in der Regel taktvoll zu übergehen. Deshalb sieht man, was den Datenverlust betrifft, immer nur die Spitze des Eisbergs. Bruce Schneier, eine oft gefragte Autorität in Sachen Sicherheit, fordert schon lange, dass die Datenhalter für Todsünden in Konstruktion und Wartung ihrer Datenbanken haftbar gemacht werden sollen. Schlagartig würde sich die Sicherheitslage bessern.

Gäbe es ein höher entwickeltes öffentliches Speicher-Bewusstsein, könnten wir im Fernsehen auch jene verzweifelten Menschen sehen, die mit geborstenen Festplatten im Arm zur Notoperation ins Datenlabor laufen. Und es sind viele, die laufen - Datenrettung ist eine Wachstumsbranche. Geburt, Hochzeit, Urlaub - alles Leben läuft heute in digitalen Spuren.

Der drohende Totalverlust des privaten Gedächtnisses, jene technische Finsternis, die Bilder, Filme und Musik, bisweilen auch Bücher und Magisterarbeiten verschlingt, wäre ein guter Grund für private Speicher-Vorsorge.

Eine solche beginnt mit der Wahl des richtigen Mediums. Nur wenige, mutmaßlich wohlhabende Käufer haben bisher beim Kauf von CD's darauf geachtet, solche auf Phthalocyanin-Basis mit Gold- oder wenigstens Silberbeschichtung zu erstehen. Von diesen Disks heißt es, dass sie 30 Jahre halten könnten. Vorausgesetzt, man benutzt sie so wenig wie möglich und lagert sie weder zu heiß noch zu kalt.

Am sichersten sind Nickel-Platten, die von einem Ionenstrahl graviert werden. Der Hersteller, "Norsam Technologies", garantiert diesen Datenträgern, deren Herstellung einige tausend Dollar kostet, eine Mindesthaltbarkeit von 1000 Jahren bei einer Umgebungstemperatur von 500 Grad Celsius.

Bei herkömmlichen CD's genügen schon ein paar Wasserdampf-Moleküle, die durch feine Risse in der Klarlack-Versiegelung eindringend die empfindliche, hauchdünne Reflexionszone reizen, und schon versteht der Player die CD ebenso wenig wie der User die Welt. Sonnenlicht und Halogenstrahler setzen dem Polycarbonat zu, in dessen feinen Vertiefungen das Liedgut, die Bewegtbilder und andere vermeintlich unsterbliche Werke eingebrannt sind.

Gegen solche Bedrohungen hilft leider nur eins: speichern, speichern und nochmals speichern. Früher wuchsen auf Schreibtischen die Diskettenstapel, später falteten sich CD- und DVD-Berge auf. Jetzt verheißt die neue Blue-ray-Disk kurzfristig flachere Bürolandschaften. Immerhin fasst die jüngste Speicherscheibe in der zweilagigen Standardversion 45 Gigabyte an Daten, das sollte für die Familiengeschichte reichen.

Die Blue-ray-Disk wird von einer angeblich besonders widerstandsfähigen Schutzschicht namens "Durabis" ummantelt. Die Hersteller versprechen Sicherheit für 30 bis 50 Jahre. Und viel versprechen müssen sie, denn das Blaustrahl-Speichern ist kein billiges Vergnügen. Die Brenner unterboten eben erst die 200-Euro-Preisgrenze, die Rohlinge kosten in besserer Ausführung bis zu 40 Euro.

Wo das alles enden soll, weiß man nicht. Ein US-amerikanisches Forscherteam hat heuer in einem Anflug von Genialität Drähte aus Bariumtitanat aufgerollt, die nur ein paar Atome dick sind. Legt man sie in Wasser ein, können sie 100.000 Terabits pro Kubikzentimeter speichern. Umgerechnet in die MP3-Währung bedeutet das, dass man 300.000 Jahre Musik hören könnte, ohne je ein Stück wiederholen zu müssen - vorausgesetzt, man findet so viele Songs.

Das digitale Gedächtnis wird sich also bald noch mehr merken können. Wird es davon auch besser? Das Gedächtnis, das wir brauchen, bewahrt die richtigen Daten verlässlich auf, gibt die falschen nicht preis und vergisst auf alles, was zu vergessen ist. Das digitale Gedächtnis, das wir haben, ist nicht nur im technischen Sinn unmenschlich.