Zum Hauptinhalt springen

Das Ukraine-Paradoxon

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Ein Wirtschaftscrash in Europa könnte die Unterstützung erlahmen lassen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Gerhard Schröder, deutscher Ex-Kanzler (SPD) und Russlands Präsidenten Wladimir Putin in einer offenbar unkaputtbaren Männerfreundschaft verbunden, hat bereits vor einem Monat eine scheinbar perfekte und sofort wirksame Lösung für Europas Energiekrise vorgeschlagen: die Inbetriebnahme der fertigen, aber nie aktivierten Pipeline Nord Stream 2. "Sie ist fertig. Wenn es wirklich eng wird, gibt es diese Pipeline, und mit beiden Nord-Stream-Pipelines gäbe es kein Versorgungsproblem."

Diesen Ball aufgenommen hat vor ein paar Tagen Wjatscheslaw Wolodin, ein enger Vertrauter Putins und Sprecher des russischen Parlamentes: "Für Europas Staats- und Regierungschefs ist der Moment der Wahrheit gekommen. Sie haben zwei Auswege aus der Situation, die sie sich selbst geschaffen haben. Der erste: die illegalen Sanktionen gegen unser Land aufheben und Nord Stream 2 starten. Der zweite: alles so lassen, wie es ist, was zu Problemen in der Wirtschaft führen und den Bürgern das Leben noch schwerer machen wird."

Warum er das sagt, noch dazu während gerade Nord Stream 1 abgedreht wird: Mit dem Angebot, gegen eine Aufhebung der Sanktionen schlagartig die akute Energiekrise zu lösen und die Lage der europäischen Wirtschaft spürbar zu verbessern, warme Wohnungen und gesicherte Jobs inklusive, soll Druck auf die Regierungen der EU-Staaten aufgebaut werden, die Sanktionen zumindest zu lockern. Ein Druck, der im Herbst und Winter wohl auch aus der Bevölkerung stark zunehmen wird.

Daraus könnte eine extrem kritische Situation entstehen, die letztlich auch die Ukraine militärisch massiv schwächen könnte. Denn wenn die Energieversorgung und damit natürlich auch die allgemeine Wirtschaftslage im Winter in Europa katastrophal wird, dürfte eine starke politische Bewegung entstehen, die Ukraine doch bitte ihrem Schicksal zu überlassen, wenn das die Voraussetzung dafür ist, eine Verarmung großer Teile Europas zu verhindern.

Wer weiß, wie viel Angst die meisten Regierungen Europas mittlerweile vor einer derartigen Entwicklung haben, kann ermessen, was das im Fall des Falles für die Ukraine bedeuten würde. Moderne Churchills sind ja derzeit in der EU eher nicht in Sicht, es dominieren eher besonders charakterelastische Politikertypen.

Das ist kein besonders schöner Gedanke, aber leider nicht unrealistisch: Wenn Europa die Embargos und den Verzicht auf Gas durch Nord Stream 2 konsequent durchzieht, könnte das letztlich den Zusammenbruch der politischen Front in Europa zugunsten der Regierung in Kiew und ihres mutigen Kampfes gegen die russische Aggression bedeuten. Paradox, aber realistisch.

Ich weiß offen gesagt nicht, welchen Schluss wir aus dieser Situation ziehen sollen. Denkbar ist jedenfalls, dass bei einer Normalisierung der Gasversorgung der Preis so sinken würde, dass Putin paradoxerweise weniger Geld in der Kriegskasse hätte. Aber wer ganz grundsätzlich nicht bereit ist, sich die Frage zu stellen, wie lange und unter welchen wirtschaftlichen Bedingungen die massive militärische Unterstützung der Ukraine in den westeuropäischen Demokratien durchzuhalten ist, erweist dem ukrainischen Freiheitskampf möglicherweise keinen Gefallen.