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Trotz massiver russischer Angriffe überstand das Stromnetz den Winter besser als erwartet.
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Es steckt System dahinter: Seit Oktober greift Russland die Energieinfrastruktur der Ukraine an. Im Dezember sah es teilweise danach aus, als ob das ukrainische Stromnetz kurz vor dem Zusammenbruch stehen würde. Im allerbesten Fall wurde der Strom nach einem Plan abgeschaltet. Kurz nach einem erneuten russischen Beschuss, der meist alle sieben bis 14 Tage mit im Schnitt zwischen 50 und 60 Raketen erfolgte, kam es jedoch oft dazu, dass selbst einige Großstädte mehrere Tage ohne Strom, Heizung und Wasser verbringen mussten.
Doch obwohl die Intensität der Angriffe lange nicht nachgelassen hat, schafften es ukrainische Energiebetreiber, die Lage bereits Anfang Februar zu stabilisieren und Stromausfälle selbst in den, abgesehen von der Frontlinie, am meisten betroffenen Städten Kiew und Odessa zu minimieren. Und als die Ukraine Anfang März länger als 20 Tage fast komplett ohne Stromausfälle lebte, während in diesem Zeitraum kein neuer Massenbeschuss seitens der Russen mehr stattfand, entstand irgendwann der Eindruck: Russland hat Angriffe auf Energieinfrastruktur aufgegeben.
"Ich habe tatsächlich gedacht, dass sie es gelassen haben - ähnlich wie kurz nach Kriegsausbruch den Beschuss der Fernsehtürme, der sich als nicht effektiv erwiesen hat", sagt Andrian Prokip, Direktor des Energieprogramms der unabhängigen Kiewer Denkfabrik Ukrainisches Zukunftsinstitut. "Ich war ehrlich überrascht, in der Nacht vom 8. auf 9. März zu sehen: Sie machen das wieder." 81 Raketen sind in dieser Nacht auf die Ukraine geflogen, das war überdurchschnittlich viel im Vergleich zu vorherigen Angriffen. Und die Ziele blieben die gleichen wie immer: etwa Wärmekraftwerke und unterschiedliche Umspannwerke.
Kein Kollaps in Sicht
Dabei haben die Russen höchst untypisch gleich sechs ihrer teuren Hyperschallraketen der Klasse Kinschal eingesetzt, die früher höchstens stückweise benutzt wurden und von der ukrainischen Flugabwehr nicht abgefangen werden können. Eine davon hat ein Wärmekraftwerk in Kiew getroffen. Der erneute russische Angriff war für die Wiederkehr der Stromausfälle in vielen Regionen wie Kiew, Odessa oder Schytomyr sowie für Probleme mit Heizungsversorgung verantwortlich. Besonders betroffen war die ostukrainische Stadt Charkiw, die lange komplett ohne Strom blieb. Doch verglichen mit Dezember, blieben die Folgen überschaubar. Besonders angesichts des begonnenen Frühlings und steigender Temperaturen scheint es nahezu ausgeschlossen, dass die ukrainische Stromversorgung bald kollabiert.
Wie kam es denn dazu, dass das Stromnetz den Winter viel besser als erwartet überstehen konnte? "Vorerst müssen wir im Kopf behalten, dass unser Stromverbrauch nicht der gleiche ist wie vor zwei Jahren. Millionen Menschen haben das Land verlassen, viele Betriebe stehen still", erklärt Prokip, der auch am Kennan Institute tätig ist. "Im Kern gibt es aber drei Gründe: deutliche Verbesserung der Flugabwehr im Vergleich zu den ersten Angriffen dank der westlichen Lieferungen, der relativ warme Winter und die sehr durchdachte Arbeit der Energiebetreiber. Diese haben Teile des Systems immer wieder rechtzeitig abgeschaltet, um einen größeren Schaden zu vermeiden. Das spielte eine enorme Rolle." Die Mitarbeiter der Energieunternehmen müssten laut Prokip schon alleine dafür gelobt werden, dass sie unter Beschuss ihr Leben riskierten. Bei so gut wie jedem Angriff wurde jemand von ihnen getötet.
Außerdem wurde im Dezember und im Jänner damit begonnen, Ersatzleitungen, die lange Jahre nicht benutzt wurden, zu erneuern und mit stärkeren Transformaten auszustatten. Dadurch wurde deren faktische Durchlassfähigkeit deutlich vergrößert, was den Energiebetreibern einen größeren Zeitraum bei der Reparatur der Hauptleitungen lässt, ohne dass neue Stromdefizite im System entstehen. Tief im Winter hat auch der Stromimport aus der EU eine Entlastungsrolle gespielt: Der EU-Strom ist zwar deutlich teurer, viele Betriebe haben sich jedoch gezielt dafür entschieden, um normal funktionieren zu können. "Stromimport ist jetzt fast kein Faktor mehr, doch er war wichtig, auch wenn nicht überwichtig", meint Prokip.
Schaden bleibt enorm
Der Schaden für die ukrainische Energieinfrastruktur bleibt trotzdem enorm - und es ist Experten wie Andrian Prokip bewusst, dass das Energiewunder der Ukraine nicht zuletzt deswegen zustande kam, weil ukrainische Unternehmen immer weniger produzieren, auch alleine wegen der schwierigen Wirtschaftslage. Doch es bleibt die Frage, welchen Sinn die Fortsetzung der Angriffe auf Energieinfrastruktur für Russland noch hat, während die Ukraine es bereits durch den Winter geschafft hat. "Das russische Spiel ist lang. Der nächste Winter ist auch näher, als man denkt. Die Russen wollen nach und nach alle wichtigen Infrastrukturen zerstören, damit es irgendwann keine Möglichkeit mehr gibt, Energie zu erzeugen", konstatiert Militäranalyst Stanislaw Besuschko, der aktuell selbst bei der Armee dient. Prokip wiederum verweist darauf, dass vermehrter Einsatz der Klimaanlagen auch im Sommer zu gewissen Stromknappheiten führen kann - wirklich bedeutend wäre dies aber nicht.
Klar ist: Die Verhinderung der Möglichkeit des von Kiew erhofften Stromexports in die EU war ohnehin ein schwerer Schlag für die ukrainische Wirtschaft. Dass das Land und seine Partner Millionen Euro für die Erneuerung der Energieinfrastruktur statt für Waffen ausgeben müssen, ist ebenfalls offensichtlich. Und dass die Ukraine ihre Flugabwehrsysteme im ganzen Land verteilen statt in der Nähe der Front sammeln muss, gehört zur Strategie hinter dieser Kriegsführung der Russen - ebenso wie die Ausschöpfung der Reserven der ukrainischen Flugabwehr, die wie vieles andere noch nicht in Sicht ist. Die Frage ist allerdings trotzdem, ob es effektiv ist, Raketen gerade gegen Energieobjekte einzusetzen.
Diesel für die Bahn
Denn Russland legt offensichtlich großen Wert darauf, ausgerechnet die Infrastruktur zu treffen, die entweder Werke versorgt, die ukrainische Militärtechnik reparieren, oder Objekte der ukrainischen Bahn, mit der Waffen und Soldaten transportiert werden. Dies erschwert den Ukrainern beide Aufgaben, doch der erzeugte Effekt ist äußert gering.
"Die Reparatur der Technik ist natürlich die Priorität Nummer eins für die Ukraine. Und es wurden im Winter so viele Generatoren ins Land gebracht. Es ist selbst im schlimmsten Fall kein unlösbares Problem, zumal die Einfuhr des Benzins aus der EU reibungslos funktioniert", kommentiert Andrian Prokip. Die ukrainische Bahn ist dagegen mit Diesellokomotiven ausreichend versorgt und hat bei bisherigen Angriffen nicht den Anschein erweckt, dass ihre Lahmlegung realistisch wäre.