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Das Vagabunden-Leben der Tiere

Von Roland Knauer

Wissen
Küstenseeschwalben sind mehr als 80.000 Kilometer pro Jahr unterwegs.
© © Dr. Roland Knauer

In den meisten Fällen wandern Tiere aufgrund der Nahrungssuche.


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Berlin. Bergsteiger und Flugzeugpiloten staunen gewaltig, wenn sie bei der Gipfelrast auf einem Achttausender im Himalaya oder beim Überfliegen des höchsten Gebirges der Erde über Fels und Eis Streifengänse fliegen sehen. Menschen überleben ohne zusätzlichen Sauerstoff in der dünnen Luft dort oben nicht lange. Die knapp drei Kilogramm schweren Vögel aber fliegen auf dem Weg von ihren Brutgebieten auf den Hochebenen Zentralasiens in ihr Überwinterungsgebiet auf dem indischen Subkontinent anscheinend mühelos über den höchsten Berg der Erde, den Mount Everest. Eine solche Route ist jedoch nicht die Regel, denn "fast immer überqueren Streifengänse den Himalaya über die niedrigsten Pässe", berichtet Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell und der Uni Konstanz.

Die Vögel nehmen also den bequemsten Weg, der zwar immer noch mehr als 5500 Meter über dem Meeresspiegel liegt, vermeiden damit aber die kraftraubende Höchstleistung eines Fluges in 9000 Meter Höhe. Kleine, an den Streifengänsen angeheftete Sender förderten diese Information über die bis dahin falsch angenommenen Flugstrecken der Tiere zutage.

Wikelski konnte auf diese Art und Weise mittlerweile einige erstaunliche Tierwanderungen verfolgen. So hat der Forscher Hummeln mit einem 0,2 Gramm leichten Super-Mini-Sender ausgestattet und so herausgefunden, dass die Tiere im Jahre 2010 während der Obstblüte am Bodensee gleich einige Kilometer weit zu den schmackhaftesten Nektarquellen zurücklegten. Und offensichtlich wandern nicht nur Hummeln so weit, um sich den Magen vollzuschlagen.

Leistungen der Schildkröten

Kürzlich hat Wikelski die Galapagos-Schildkröten auf den Inseln Santa Cruz und Isabela mit Sendern ausgerüstet. "Die Tiere legen dabei Entfernungen von zehn Kilometern zurück und überwinden an den Hängen der Vulkane mehr als tausend Meter Höhendifferenz", so der Forscher. Auch bei ihnen scheint es einen Zusammenhang mit der Nahrung zu geben. Welches Futter die Tiere suchen, müssen die Forscher aber noch untersuchen.

Auch die aktuellen Weltrekord-Halter im Langstreckenflug der Tiere denken vor allem ans Fressen. Küstenseeschwalben brüten im Sommer fast überall auf der Nordhalbkugel zwischen den Küsten von Nord- und Ostsee bis hinauf in den Norden Grönlands, überwintern aber weit im Süden auf den Inseln im Südpolarmeer. Sie kommen jährlich auf rund 30.000 Flugkilometer. Ornithologen schließen das aus Vögeln, denen sie zur Beobachtung Ringe um die Beine legen.

Was die Vögel aber zwischen beiden Gebieten machen und welche Flugrouten sie wählen, verraten die Ringe nur selten. Carsten Egevang vom Greenland Institute of National Resources in der Hauptstadt Grönlands, Nuuk, rüstete elf Küstenseeschwalben mit kleinen Loggern aus. Diese "Fahrtenschreiber" zeichnen die Länge eines jeden Tages auf. Nach der Auswertung der Aufzeichnungen veröffentlichte Egevang in der Zeitschrift "Pnas" das verblüffende Ergebnis: Einige Küstenseeschwalben sind mehr als 80.000 Kilometer im Jahr unterwegs. Geschickt wählen die Tiere ihre Routen so, dass möglichst häufig Rückenwind sie anschiebt und Gegenwind nur selten bremst. Obendrein entdeckten die Forscher über die Satellitendaten auch bisher unbekannte Rastplätze. Dort gibt es immer klares Wasser, in dem viele kleine Fische schwimmen - das optimale Jagdrevier.

Im Golf von Mexiko gesehen

Auch die Amerikanische Königslibelle fliegt von der Ostküste der USA tausende von Kilometern weit bis hinunter nach Florida. Selbst auf Ölbohrplattformen im Golf von Mexiko kommen die Insekten immer wieder an. "Sie suchen wohl Gebiete, in denen ihre Larven genug Nahrung finden", vermutet Wikelski.

Inzwischen hat der Biologe am Sylvenstein-Stausee in Bayern selbst kleine Distelfalter mit Sendern bestückt. Diese Schmetterlinge fliegen manchmal sogar über die Alpen und zählen damit ebenfalls zu den Weitwanderern unter den Tieren.

Lange Strecken legen auch Flattertiere zurück, erklärt Christian Voigt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin: "Palmenflughunde leben im tropischen Regenwald in Afrika, ziehen aber etliche tausend Kilometer weit in die Sahelzone im Norden und bis nach Sambia im Süden des Kontinents, wenn dort bestimmte Früchte massenhaft reifen."

Aus anderen Gründen wandern auch in Europa Fledermäuse. Jene Tiere, die in Höhlen und Hausruinen ihren Winterschlaf halten, bleiben für gewöhnlich vom Frost verschont. Vor den eisigen Winternächten Skandinaviens oder des europäischen Nordostens müssen die Rauhautfledermäuse allerdings fliehen und fliegen deshalb vom Baltikum und Russland rund 2000 Kilometer weit bis in den Bodenseeraum oder nach Frankreich - sie würden sonst in ihren Baumhöhlen erfrieren.

Zum Schutz vor Feinden scheinen Buckelwal-Weibchen auf Wanderung zu gehen, wie Meeresbiologen meinen. Viele der Tiere leben vor Alaska. Von dort aber schwimmen Weibchen in einem guten Monat mehr als 5000 Kilometer weit bis vor die Küsten Hawaiis, um ihre Kälber zu bekommen. Da finden sie zwar keine Nahrung und fasten, aber die in kalten Gewässern häufigen Orcas, für die Buckelwal-Nachwuchs ein gefundenes Fressen ist, tauchen vor Hawaii fast nie auf.

Soweit zumindest die Theorien, die Biologen ähnlich auch für viele andere Tierwanderungen vorschlagen. "In der Praxis sind solche Überlegungen aber bisher kaum überprüft worden", warnt Max-Planck-Forscher Wikelski. Zukünftige Forschungsergebnisse werden so manche heutige Theorie wohl wieder über den Haufen werfen, glaubt er: "Immer wenn wir Tiere mit Sendern in der Natur verfolgen, erhalten wir überraschende Ergebnisse, die unseren ursprünglichen Überlegungen widersprechen."