In Chongqing gilt Ex-Parteichef Bo Xilai auch zwei Jahre nach dem Sturz als Volksheld. Seine Nachfolger kopieren die Methoden.
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Chongqing. "Chongqing ist die schönste Stadt der Welt." Der Verdacht liegt nahe, dass Ding Rui noch keine andere Stadt auf der Welt gesehen hat, denn auf Chongqing treffen viele Adjektive zu: imponierend, pulsierend, energetisch, hektisch, grau. Schön ist keines davon. Zumindest hat der 38-jährige Reisebegleiter auf einem Flussfahrtunternehmen eine Begründung für seine Behauptung: "Bevor Bo Xilai hier an die Macht gekommen ist, war Chongqing ein kleines Mädchen. Er hat die Stadt zu einer jungen Schönheit gemacht."
Ding muss es wissen, denn er ist einer der Nutznießer der Hinterlassenschaften des gefallenen Stars der kommunistischen Partei Chinas: Er wohnt gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter in einer 70 Quadratmeter großen Sozialwohnung, für die er einen Bruchteil der ansonsten üblichen Mietpreise bezahlt. 73 Millionen Quadratkilometer an sozialem Wohnraum hat Bo Xilai während seiner fünfjährigen Regentschaft in der Yangtze-Metropole geschaffen. Hier ist seine Popularität auch zwei Jahre nach dem Platzen des bislang größten Skandals der Volksrepublik ungebrochen.
Erfolgreich mit Nostalgie
Im Frühjahr 2012 wurde Bo Xilai, der Hoffnungsträger der "neuen Linken" in China, seiner Ämter enthoben und aus der Partei ausgeschlossen. Den Stein ins Rollen gebracht hatte sein "Superbulle" Wang Lijun, mit dem er zuvor noch Seite an Seite öffentlichkeitswirksame Kampagnen gegen die organisierte Kriminalität durchzog - oder zumindest jene, die Bo dafür hielt. Doch dann ohrfeigte der Parteisekretär seinen obersten Ordnungshüter demonstrativ vor versammelter Mannschaft, dieser flüchtete ins amerikanische Konsulat in Chengdu, der Rest ist chinesische Geschichte: Bos Ehefrau Gu Kailai wurde im August 2012 wegen der Ermordung des britischen Geschäftsmannes Neil Heywood zum Tod auf Bewährung verurteilt, er selbst ein Jahr später wegen Bestechlichkeit, Unterschlagung und Amtsmissbrauch zu lebenslänglicher Haft.
Lebenslang bedeutet nach Chinas juristischer Definition und Praxis 15 bis 22 Jahre Haft. Für Bo Xilai dürfte es jedoch nur zwei Möglichkeiten geben, die ihn aus seinem goldenen Käfig im Funktionärsgefängnis Qincheng nördlich von Peking führen könnten: Entweder die kommende Führungsriege ist ihm nach Abtreten der Mannschaft um Parteichef Xi Jinping wieder wohlgesonnen, oder eine Revolution stellt das politische Gefüge des Landes auf den Kopf. Beides ist aus jetziger Sicht eher unwahrscheinlich. Die Ironie der Geschichte ist, dass das politische Erbe Bo Xilais trotz seines dramatischen Sturzes weitgehend intakt geblieben ist. Als Galionsfigur des linken Parteiflügels strebte er eine Rückbesinnung auf die Mao-Zedong-Ära an und bekämpfte eine Ausweitung der marktwirtschaftlichen Orientierung der Parteiführung. In der Praxis verwandelte er Chongqing während seiner Regentschaft zeitweise in eine große Karaoke-Bar, in der bei Massenversammlungen "rote" Revolutionslieder geschmettert wurden.
Die Nostalgie-Kampagne hatte Erfolg - nicht zuletzt deshalb, weil sich viele ältere Chinesen in Wehmut an die angeblich gute, ehrliche Mao-Zeit erinnern. Xi Jinping, Bos innerparteilicher Rivale im Kampf um die Macht, reitet ebenfalls demonstrativ auf dieser Welle beruft sich so sehr auf Maos Erbe wie kein anderer Staatschef seit dem Tod des Großen Vorsitzenden. Auch den Kampf gegen das organisierte Verbrechen, die zweite Säule des Chongqing-Modells, hat die vor einem Jahr angetretene Führung mit Verve aufgegriffen: In den meisten Provinzen wurden Kampagnen gegen Kriminalität durchgezogen, mit dem Nebeneffekt, dass seitdem auch etliche Systemkritiker und Dissidenten von der Bildfläche verschwunden sind.
Das ändert nichts daran, dass Bo Xilai in weiten Teilen der Bevölkerung Chongqings nach wie vor als Volksheld gilt. Tatsächlich verliert kaum jemand ein schlechtes Wort über den gefallenen Stern: Taxifahrer schwärmen von ihm, weil er einen ihrer Streiks für höhere Löhne zu ihren Gunsten beilegen konnte. Wanderarbeiter bewundern ihn, da er einst mit aufgepflanzten Bajonetten ausstehende Löhne eintreiben ließ. Akademiker zollen ihm Respekt, da unter seiner Führung das Verbrechen auf den Straßen zumindest dem Anschein nach zurückging. Die Managerin eines der führenden Hotels der Stadt sagt: "Durch seine Aura und sein Charisma stach er aus dieser grauen Politikerkaste hervor. Wenn er den Raum betrat, wusste man sofort, wer der Chef ist. Und die Leute mochten ihn - Angst hatten sie nur vor Wang Lijun."
Der unbekannte Neue
Im "Hongge Ting", einer schummrigen Kneipe in der Innenstadt, werden nach wie vor geradezu trotzig die "roten Lieder" gegrölt. Hier sitzt der harte Kern der Bo-Anhänger, "er lebt für immer in unseren Herzen", sagen sie. Dabei ist es interessant, mit welchen Argumenten sie ihr Idol trotz all seiner Verfehlungen verteidigen. Dass er Milliardensummen veruntreut und ins Ausland verschoben hat? "Mein Gott, das machen sie doch alle." Dass seine Frau in einen Giftmord verwickelt war? "Damit hat er doch nichts zu tun." Dass unter seiner Führung Unschuldige gefoltert wurden, um Geständnisse zu erpressen? "Das hat Wang Lijun gemacht, deswegen wurde er ja gefeuert." Und auch der von der KP erhobene Vorwurf, Bo hätte "ungehörige sexuelle Beziehungen zu einer Reihe von Frauen" unterhalten, ringt ihnen höchstens stille Bewunderung ab.
Seit November 2012 ist Sun Zhengcai als Sekretär des Parteikomitees der neue Herr über Chongqing, und er bemüht sich seitdem, Ruhe einkehren zu lassen. So betonte er, dass der private Sektor mehr Unterstützung bekommen würde, als es unter seinem Vorgänger der Fall war. Andererseits machte er bis jetzt keine Anstalten, dessen Bauprojekte und Sozialprogramme zu stoppen. Aber: "Bo Xilai hat damals dramatische Veränderungen herbeigeführt, die wir, die ganz normalen Leute, tatsächlich gespürt haben. Beim neuen Parteiführer weiß ich nicht einmal, wie er aussieht", seufzt Ding Rui in seiner Sozialwohnung. Abschließend zeigt er noch stolz eine Ketten-SMS aus dem Jahr 2011: "Die Welt gehört uns, wenn wir alle zusammenarbeiten." Absender: Bo Xilai.