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Das Virus bittet wieder zum Tanz

Von Simon Rosner

Politik
© United Nations/Rizon Parein

Der Lockdown wird bald enden, doch was kommt danach? So wie vorher geht es nicht. Vier Ideen für den Advent.


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Erinnern Sie sich noch an den Hammer und den Tanz? Diese Metapher prägte die Einschätzung des Verlaufs der Pandemie und ihrer Bekämpfung. Erst der Lockdown, also der Hammer, um die Inzidenz zu drücken, dann der Tanz mit der effektiven Reproduktionszahl. Die müsste langfristig unter 1 gehalten werden, um erfolgreich zu tanzen, dass also eine infizierte Person durchschnittlich nicht mehr als eine weitere ansteckt.

Die damals geäußerte Vermutung, dass die Reproduktionszahl auch mit gelinderen Maßnahmen als massiven Kontaktbeschränkungen unter 1 gedrückt werden kann, erfüllte sich in Europa nicht, sei es aufgrund bestimmter Eigenschaften des Virus, politischer Fehler oder eines Lebensstils in Europa, der sich in der gesellschaftlichen Realität nicht ausreichend den Herausforderungen der Pandemie anpasste.

Es musste also wieder der Hammer richten, in Österreich sogar der Vorschlaghammer, nämlich der harte Lockdown. Der wird nun bald enden, so viel weiß man. Sonst aber noch nicht viel. Welche Maßnahmen sollen gelockert werden? Und wie lange? Was muss sich gegenüber September ändern? Am Mittwoch wird die Regierung ihr Konzept dafür vorlegen. Klar ist: Der Tanzstil wird ein anderer sein müssen, will man nicht bald wieder in den Lockdown. Es gibt aber Grund für Optimismus. Das Wissen über das Virus wächst stetig, und auch aus Fehlern lässt sich lernen. Ein paar gesammelte Überlegungen.

 1. Der Babyelefant muss größer werden

 Österreich hält seit März an der Empfehlung der Weltgesundheitsagentur des Ein-Meter-Abstandes fest. Allerdings auch nur in den Corona-Verordnungen. Denn unter Quarantäne gestellt werden auch Kontakte zu Infizierten unter zwei Metern Entfernung. Das ist nicht gerade konzis. Die wissenschaftliche Literatur ist in der Frage zwar nicht eindeutig, es mehren sich aber die Hinweise, dass der Ein-Meter-Abstand in vielen Situationen zu wenig ist. Das Beratungsgremium der britischen Regierung verweist in einer Publikation auf Studien, die nahelegen, dass bei einem Meter ein zwei- bis zehnmal höheres Risiko für eine Übertragung besteht.

Auch IHS-Gesundheitsökonom Thomas Czypionka betont die geänderte Datenlage bei diesem Aspekt, er arbeitet gerade an einer Metastudie dazu. Bei jeder Maßnahme sind auch Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen zu beachten. Der Ein-Meter-Abstand stellt hier keine komplett ungewöhnliche Gesprächssituation dar. Das könnte negative Effekte haben. "Man kippt dann leichter ins Normale, in das, was man gewöhnt ist", sagt Czypionka. Schnell wird dann aus einem Meter nur ein halber. Eine Beobachtung sei, dass die Menschen in Ostasien aufgrund vergangener Pandemien sofort ihr Sozialverhalten umgestellt hätten. "Das ist bei uns überhaupt nicht der Fall."

 2. Es braucht eine bessere Risikokommunikation

 Eine Auswertung des Complexity Science Hub um Physiker Peter Klimek über die Maßnahmen des ersten Lockdowns haben der Risikokommunikation eine hohe Relevanz zugewiesen, um die Reproduktionszahl zu drücken. Auch Czypionka misst der Kommunikation eine wichtige Rolle zu. Im März habe sie gut funktioniert. "Aber damals war das Virus ein unbekanntes Phänomen. Die Maßnahmen waren wie ein Rettungsanker. Man hielt sie ein, es wurde aber nicht das Warum kommuniziert." Die Menschen tragen einen Mundschutz, ein tieferes Verständnis, warum diese Maßnahme besteht, fehlt aber oftmals. Als weiteres Beispiel nennt Czypionka, dass beim Contact Tracing der Stadt Salzburg 20 Mitarbeiter in einem Raum saßen und nach einem Infektionsfall dann alle in Quarantäne mussten. "Das ist der Unterschied zwischen Wissen und Verstehen."

In dem Zusammenhang sind zwei Aspekte der Dunkelfeldstudie der Statistik Austria erwähnenswert. Die tatsächliche Prävalenz war Mitte November rund dreimal so hoch wie die offiziell erfasste. 28 Prozent der Infizierten berichteten, keine Symptome zu haben. Das deckt sich auch mit der wissenschaftlichen Literatur, bei der sich ein Wert um 20 Prozent asymptomatisch Infizierter herauskristallisiert. Da Mitte November aber etwa dreimal mehr Personen infiziert gewesen sein dürften, deutet das auf eine Untererfassung von symptomatischen Personen hin. Auch hier könnte kommunikativ angesetzt werden, zumal es mit dem Antigentest nun eine schnelle, niederschwellige Testmethode gibt, die in den ersten Symptomtagen zuverlässige Ergebnisse bringt.

Ein weiterer Punkt ist eine zielgruppenorientierte Kommunikation, die vor allem in kulturell diversen Gesellschaften von großer Bedeutung ist. Japan ist für IHS-Gesundheitsexperte Czypionka zwar ein Vorbild in Sachen Wissensvermittlung, "aber es ist eine sehr uniforme Gesellschaft". In europäischen Gesellschaften sei das komplizierter. In England ist dank der allgemein besseren Datenlage schnell aufgefallen, dass gewisse ethnische Bevölkerungsgruppen stärker vom Virus betroffen sind. Aus einer genauen Analyse der Public-Health-Behörde sind dann konkrete Ableitungen getroffen worden, etwa mehr Augenmerk auf interkulturelle Kompetenz bei Präventionsprogrammen und eine verbesserte Zusammenarbeit mit Communitys.

Die deutsche Regierung hat mit einem Spot, der sich gezielt an junge Männer richtet, einen kleinen Internethit gelandet. Der IHS-Experte erwähnt auch die verstärkte Nutzung von Social Media und Orten, an denen sich gewisse Zielgruppen aufhalten, zum Beispiel Fitnesscenter.

Auch die Wiederöffnung nach dem Lockdown und das bevorstehende Impfprogramm muss mit Kommunikation begleitet werden. Dass beispielsweise der Handel vor Weihnachten aufsperren wird, ist anzunehmen. Doch es darf kein Einkaufen wie sonst geben. "Im Geschäft selbst finden wenige Ansteckungen statt. Einkaufen ist aber auch ein Event, es kommen Leute zusammen", sagt Czypionka. Im Teil-Lockdown seien beim Einkaufen auch soziale Bedürfnisse befriedigt worden, man ging gemeinsam shoppen und trank noch einen Kaffee "to go". Dieser Advent verlangt ein anderes Verhalten. Dies müsse bereits jetzt kommuniziert werden, sagt Czypionka. Die Regierung hat sich gerade einen großzügigen Rahmen für Kommunikation gegönnt (210 Millionen Euro), am fehlenden Budget sollte es nicht scheitern.

 3. Es braucht den richtigen Maßnahmenmix

 Die Studie des Complexity Science Hub zur Bewertung der Maßnahmen bietet eine evidenzbasierte Grundlage für eine wirksame Strategie, zumal die Effektivität mit den wirtschaftlichen und sozialen Schäden der einzelnen Einschränkungen abgewogen werden können. Als wirksamste Maßnahme im ersten Lockdown hat sich das Verbot kleiner Veranstaltungen (bis 50 Personen) erwiesen, danach kommt allerdings schon das Schließen von Schulen.

Da es Wechselwirkungen gibt, dient die Studie nicht als simple Menükarte, aber sie ist, klug eingesetzt, jedenfalls eine gute Basis für politische Entscheidungen. Und die wird es benötigen. "Wir werden nicht Geschäfte und Schulen öffnen können, dazu Skitourismus und Familientreffen zu Weihnachten. Das wird sich nicht ausgehen", sagt Klimek. Dass es zumindest im Winter ohne schädliche Kontaktbeschränkungen geht, ist anzunehmen.

Czypionka schlägt auch eine Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern vor. "Man muss Betroffene einbeziehen", sagt er. "Was ist für einzelne soziale Gruppen noch tolerabel in der Pandemiebekämpfung?" Maßnahmen wirken nicht aus sich heraus, die Bevölkerung muss mitmachen. Im März übererfüllte diese die Regeln, vermutlich aus Angst heraus. In Mobilitätsdaten zeigt sich, dass nun viel mehr Bewegung herrscht als im ersten Lockdown. Entsprechend langsamer sinken die Fallzahlen.

Als Option sieht Czypionka auch verhaltensökonomische Strategien wie etwa ein Punktesystem für Sozialkontakte. Wer Weihnachten mit der Großfamilie feiern will, muss sich vorher eine Woche selbst isolieren. Wer lieber mit Freunden punschen geht, kann Weihnachten eben nur zu zweit verbringen. Die Bedürfnisse der Menschen sind unterschiedlich, der Maßnahmenmix könnte dadurch auch individualisiert und das Mitwirken befördert werden.

 4. Neue Testmethoden verlangen neue Strategien

 Die Antigen-Schnelltests sind eine spannende Ergänzung der bisherigen Methoden, die sogar Massentests ermöglichen. Ob Screenings der Gesamtbevölkerung die Infektionszahlen nachhaltig so drücken können, dass weitere Lockdowns vermieden werden, ist unsicher. Österreich wagt das Experiment, in der Theorie kann es auch funktionieren - in der Praxis vielleicht nicht. Pionier Slowakei rückt von der Idee wieder ab.

Czypionka nennt die Teststrategie ein "moving target". Neue Methoden bringen neue Optionen, sie haben alle Vor- und Nachteile. Auch Peter Klimek beschäftigt sich mit diesen Strategien, für die Pflegeheime hat er bereits ein Modell entworfen. Die Teststrategie muss jedenfalls ins Kontaktmanagement integriert werden, das früh überlastet war. Czypionka fordert digitale Unterstützung, etwa Online-Oberflächen, bei denen Infizierte ihre Kontakte eingeben können. Bisher schickten sie diese per E-Mail, das musste wiederum händisch von Mitarbeitern ins System eingetragen werden. Das ist wenig effizient. Und auch das ist eine Erfahrung: Effizienz ist ein Schlüssel in der Pandemiebekämpfung, bei der Kommunikation, den Maßnahmen, den Tests und beim Tracing.