Die USA dienen nach der Covid-19-Katastrophe nicht mehr länger als Vorbild, stattdessen lohnt der Blick nach Südkorea.
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Es gibt historische Momente, nach denen alles anders ist: Der 7. Dezember 1941 war so ein Tag. Angriff auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbour durch die Kaiserlich Japanischen Marineluftstreitkräfte. Ein Überraschungsangriff, klagte man damals in den USA. Dabei war dieser Angriff alles andere als eine Überraschung: Wie konnte den US-Militärstrategen entgangen sein, dass der Tenno und seine Generäle die Niederländischen Ostindischen Inseln mit ihren strategischen Ölvorräten ins Visier genommen hatten? Und dass dafür die Ausschaltung von Pearl Harbour strategisch unerlässlich war?
Jetzt, in der Corona-Krise, wird in den USA in Leitartikeln und Essays an Pearl Harbour erinnert. Für beide Fälle gilt: Diese Katastrophen kamen nicht aus heiterem Himmel. Die USA waren gewarnt. Noch nie zuvor waren die Warnungen vor dem, was kommen würde, so deutlich, so klar, so konkret wie bei Covid-19. Das European Centre for Disease Prevention and Control (eCDC) und das CDC der Vereinigten Staaten gaben die ersten Reports am 17. Jänner heraus. Die verzweifelten Versuche Chinas, die Ausbreitung der Seuche in Wuhan einzudämmen, waren spätestens seit der Quarantäne in der Provinz Hubei am 23. Jänner bekannt.
Auch Europa war gewarnt - und reagierte zu spät und zu wenig entschlossen. Zumindest die USA hätten aber Zeit gehabt, sich auf das Schlimmste vorzubereiten: Denn spätestens die dramatische Situation in der Lombardei im Februar hätte alle Alarmglocken schrillen lassen müssen. Doch noch bis vor wenigen Tagen verharmloste US-Präsident Donald Trump die Gefahr von Covid-19, brachte Grippe-Vergleiche ins Spiel, zog die Mortalitätsrate in Zweifel und versprach, dass nach Ostern wieder alles vorbei sein würde.
Zwei weitere historische Wendepunkte kommen bei der Reflexion dieser seltsamen real existierenden Corona-Krise in den Sinn: der 8. Juli 1853 und der 4. Oktober 1957.
Im Sommer 1853 tauchte das furchteinflößende Flaggschiff von Commodore Matthew C. Perry, die 2450 Tonnen schwere "USS Susquehanna", im Hafen von Uraga, an der Einfahrt zur Bucht von Tokio auf. Japan, bis dahin ein Königreich in "splendid isolation", in dem konservative, arrogante Shogune regierten, musste die eigene Unterlegenheit gegenüber dem Westen erkennen und unvorteilhafte Verträge mit den USA unterzeichnen. "Aber nur 15 Jahre nach Perrys Ankunft begann mit der Meiji-Restauration ein grundlegender sozialer und politischer Umbau, der Revolution, Widerstand und Kapitulation in einem war", schreibt der langjährige Japan- und Ostasien-Korrespondent der "Financial Times", David Pilling in seinem Buch: "Japan - Eine Wirtschaftsmacht erfindet sich neu". Das Reich der aufgehenden Sonne begann eine beispiellose Aufholjagd. Nach dem Schock baute Japan sein Kaiserreich komplett um und modernisierte Staat und Gesellschaft radikal.
Individualismus, Konsumismus
Der 4. Oktober 1957 ist das zweite lehrreiche Datum: An diesem Tag schoss die UdSSR "Sputnik", den ersten künstlichen Satelliten, in die Erdumlaufbahn. Der Westen - vor allem die USA - war schockiert. Wie konnte die Sowjetunion den Westen beim Wettlauf ins All derart überflügeln? Hatte man die Sowjets unterschätzt? Die Reaktion von US-Präsident Dwight D. Eisenhower war ein massiver Forschungsschub in den USA, die Gründung der Nasa und die Schaffung der Advanced Research Projects Agency (Arpa) - auf die übrigens das Arpanet, ein Vorläufer des heutigen Internet, zurückgeht. 1968 war die technologische Vorherrschaft zementiert - und der erste Mann auf dem Mond ein Amerikaner.
Doch warum soll Pearl Harbor als Warnung in der Corona-Krise taugen, warum die japanische Meiji-Restauration und der "Sputnik"-Schock als Lehre? Nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte sich der größere Teil Europas an den Ideen, die aus den USA kamen: Individualismus, Konsumismus, die Vision einer hyperglobalisierten Welt oder die radikalliberalen Shareholder-Value-Dogmen der Chicago-Boys um den Ökonomen Milton Friedman. Mehr Privat, weniger Staat. Coca-Kolonisation.
Ein Blick über den Atlantik offenbart jetzt in der Corona-Krise, wie sehr man das amerikanische Imperium überschätzt hat: ein katastrophaler Wirtschaftseinbruch - nicht zuletzt wegen fehlender sozialer Stabilisatoren. Politisches Totalversagen und Polarisierung verhindern rasches, entschlossenes Handeln. Das dysfunktionale Gesundheits- und Sozialsystem lässt die Opferzahlen explodieren. Religiöse Eiferer im sogenannten Bible-Belt kämpfen gegen die Lehre der Evolutionstheorie. Die USA als Vorbild? Das war einmal.
Südkorea als Vorbild
Ein Blick auf Ostasien zeigt: Im autoritären China wurde zu Beginn der Krise wertvolle Zeit vergeudet, als Whistleblower mundtot gemacht und das wahre Ausmaß des Sars-CoV-2-Ausbruchs verschwiegen wurde. Danach kam es freilich zur Massenmobilisierung, und der Pekinger Führung gelang es, das Virus einzudämmen. Doch Xi Jinpings Reich der Mitte taugt offenen Demokratien nicht als Vorbild. Die lebendige Demokratie Südkorea hingegen schon: Keinem Land ist es bisher besser gelungen, die Sars-CoV-2-Epidemie mit einer Kombination aus einem Melde- und Tracing-System von Infizierten, blitzschnellen Tests und konsequenter Quarantäne von positiv Getesteten einzudämmen.
Kulturelle Faktoren spielen beim Erfolg in der Pandemie-Abwehr eine Rolle: In vielen Nationen Ostasiens wird von den Bürgerinnen und Bürgern erwartet, dass sie das Gemeinwohl vor ihr Eigeninteresse stellen. Kommunitarismus statt Individualismus. Das Tragen von Masken ist nur ein Element: Denn schon lange vor Covid-19 galt es als völlig selbstverständlich, in der Öffentlichkeit Masken zu tragen - nicht zum Selbstschutz, sondern um Mitmenschen nicht zu gefährden. Naturwissenschaft und Technik genießen höchstes Ansehen, das Mobiltelefon steht als Konsumprodukt im Fokus, Informationstechnologie bildet das Rückgrat dieser Gesellschaften.
Rekalibrierung politischer Werte
Die Rekalibrierung politischer Werte hat längst eingesetzt: We’re all Keynesians now. Der Staat als Gläubiger und Investor letzter Instanz ist zurück auf der Bühne der Weltwirtschaft. Mehr Staat, weniger Privat. Die Idee vom Stakeholder-Kapitalismus (also die Schaffung von kollektivem Mehrwert), wie sie die Ökonomin Mariana Mazzucato, die am University College London lehrt und Gast am World Economic Forum in Davos und beim Europäischen Forum in Alpbach war, ist in aller Munde. Denn viele Unternehmen - vor allem in den USA - stehen jetzt auf tönernen Füßen, weil sie den Aktienpreis getrieben haben, indem sie ihre eigenen Papiere zurückgekauft haben, anstatt Polster anzulegen oder in die Zukunft zu investieren. Die Aktionäre wurden mit einem Kursfeuerwerk belohnt, das nun die Bürger bezahlen müssen.
Doch die Bruchlinie, die Staaten, die im Kampf gegen Covid-19 Erfolg haben, und jene, die daran scheitern, scheidet, verläuft nicht zwischen Ost und West: Der US-Politikwissenschafter Francis Fukuyama argumentiert in einem Essay im "The Atlantic Magazine", diese Bruchlinie werde zwischen kompetenten und inkompetenten Staaten gezogen. Je mehr der Regierung eines Staates vertraut werde, umso erfolgreicher könne der Staat in der Bewältigung der Krise agieren. Davon wird wohl der Eintrag im Geschichtsbuch nach der historischen Wende namens Corona abhängen.