Es gibt, wenn ich nicht irre, keinen einzigen halbwegs ernst zu nehmenden österreichischen Politiker, der sich öffentlich zu den Thesen des nun doch zur Strecke gebrachten Thilo Sarrazin bekennen würde (nur aus der FPÖ kam Applaus, was freilich eher darauf hindeutet, dass Sarrazin dort erwartungsgemäß nicht verstanden wurde). Das gilt übrigens nicht nur für die Politik, sondern für die Eliten des Landes insgesamt: Hinter vorgehaltener Hand ist da und dort so etwas wie Verständnis für den Bundesbanker auszumachen - öffentlich weht ihm kalte Ablehnung entgegen.
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Unter der Bevölkerung freilich ist die Stimmung genau umgekehrt. In Deutschland stimmt die überwältigende Mehrheit den Thesen des Provokateurs zu, und in Österreich wird das nicht viel anders sein. Es ist nicht das erste Mal, dass die Eliten und das Volk einander mit völligem gegenseitigen Unverständnis gegenüberstehen. Die Eliten finden ihr Sarrazin-narrisches Volk irgendwie peinlich. Und das Volk hält seine Eliten für abgehobene Pinkel.
Das erinnert stark an den jahrzehntelangen Streit um die europäische Integration. Auch in diesem Fall stehen die meist EU-freundlichen Eliten einem Volk gegenüber, das in weiten Teilen Europas nur sehr mäßig begeistert von diesem Elitenprojekt ist. Und auch hier hat man oft den Eindruck, den Eliten seien ihre Völker peinlich, die nicht und nicht begreifen wollen, was gut für sie ist und was nicht. Ähnliche Gemengelagen gibt es immer öfter: von manchen militärischen Einsätzen im Ausland über das Milliarden-Hilfswerk für Griechenland bis hin zum Streit um Minarette driften die Ansichten der Eliten und jene des Volkes meist heftig auseinander.
Politiker pflegen da stets von Kommunikationsproblemen zu faseln, was auf gut Deutsch heißt, dass man den Deppen da draußen eben noch lauter erklären muss, was angeblich in ihrem Interesse ist. Doch das ist nur Kosmetik. Tatsächlich sind in sehr vielen Fällen einfach die Interessen der Eliten jenen des Volkes entgegengesetzt. Dass im stark migrantisch geprägten Gemeindebau die Segnungen der Multikulturalität anders bewertet werden als im Bobo-Milieu mit Rückzugsoption in die Dachterrassenwohnung, entspricht eben der jeweiligen Interessenlage.
Vom Euro oder dem herrlich grenzenlosen Schengen-Reisen profitiert persönlich ja auch eher, wer zu den Eliten zählt, die unter der Woche beruflich zwischen Europas Metropolen nomadisieren und am Wochenende zur Entspannung nach Venedig düsen. Dem Mindestrentner mit Dauerkarte im Gänsehäufel-Bad als einziger erschwinglicher Feriendestination hingegen ist Schengen so gleichgültig wie die Vorzüge der Einheitswährung.
Der aktuelle Fall Sarrazin zeigt jedoch, dass die Deutungshoheit der Eliten in derartigen Interessenkonflikten zu bröckeln beginnt; nicht zuletzt dank der neuen Medien des Internetzeitalters. Das Volk mault plötzlich auf allen Kanälen zurück. Für Elitenprojekte aller Art bedeutet das in der näheren Zukunft wohl das Ende der Gemütlichkeit. Denn das unbotmäßige Volk auszutauschen, ist ja auch nicht so leicht.