Arbeitsmarkt und Kirchhof-Debatte | Berlin. 22. Mai 2005, 18 Uhr. Kaum hatten die Wahllokale Nordrhein-Westfalen geschlossen, war klar: Auch im sozialdemokratischen Kernland hatte sich die Serie der SPD-Niederlagen fortgesetzt; nach fast 40 Jahren muss sie den Regierungssitz in Düsseldorf an die CDU abgeben.
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Noch während der Wahlanalysen der TV-Stationen verkündet erst Parteivorsitzender Müntefering und danach auch Kanzler Schröder, dass man diese Legislaturperiode nicht zu Ende leiden, sondern durch ein gezieltes Mißtrauensvotum Neuwahlen im Herbst erzwingen wolle.
Erst sechs Wochen später steht fest, dass der Kanzler hinlänglich genug Stimmen für das Votum zusammen bekommt. Er muss diesen Weg gehen, weil das deutsche Grundgesetz kein Selbstauflösungsrecht des Bundestages kennt. Wunschgemäß verliert er die Vertrauensfrage mit 296 zu 151 Stimmen. Es folgen weitere drei bange Wochen, die der Bundespräsident nutzt, seine Entscheidung vorzubereiten. Erst am 21. Juli beendet Horst Köhler alle Spekulationen und löst den Bundestag auf.
Als das Bundesverfassungsgericht gegen Ende August Schröders Salto mortale sanktioniert, sind bereits drei Viertel der Wahlkampfzeit verstrichen.
Die Lage ist ernst
Schröder hatte mit seiner "Agenda 2010" erste unumgängliche Reformschritte unternommen. Denn das Musterland von einst, Motor und Säule des zusammenwachsenden Kontinents, war zum wachstumsschwächsten Land Europas herabgestiegen - mit einer jährlichen Neuverschuldung von 40 Milliarden Euro, leeren Rentenkassen und einem registrierten Arbeitslosenheer von fünf Millionen. Größtenteils mit Zustimmung der Union mutete er dem Wahlvolk harte Einschnitte zu und geriet zeitweise in neoliberalistisches Fahrwasser. Dafür wurde er bei allen Landtagswahlen "abgewatscht" und erntete vor allem in der eigenen Partei Unmut bis zur offenen Rebellion. Namhafte Parteimitglieder wechselten zur linken Alternative. In Umfragen grundelte die große Sozialdemokratie um die 20-Prozent-Marke.
In dieser "Blitzwahl" sind Müntefering, der "Little Boy" von der Saar (Lafontaine), "Angie" Merkel und Kirchhof, der "Professor aus Heidelberg", die handlungstragenden Leitfiguren. Müntefering hat den Fluchtweg nach vorne freigeschlagen und die SPD-Wahlstrategie bestimmt: Nach sieben Jahren "Neuer Mitte" zurück zum Schmusekurs sozialer Wärme, einem Wellness-Programm für die gepeinigte linke Seele.
Lafontaine hat seinen Hut in den Ring geworfen, den ehemaligen Männerfreunden einen gewaltigen Schrecken eingejagt und eine neue bundesweite Kraft links von rot-grün etabliert. Sein Partner Gysi von der PDS hat recht, wenn er konstatiert: Allein das Erscheinen der Linkspartei auf der politischen Bühne habe die SPD tiefgreifend verändert.
Merkel hat ihren Erzrivalen Stoiber elegant überspielt und könnte am Sonntag die historische Doppelrolle erste Kanzlerin und erster Ossi erlangen.
Kirchhof, ein brillanter Finanzwissenschaftler, hat die Steuerdiskussion entfacht und mit seinem Auftritt der Polit-Szene den Glanz der Intellektualität verliehen. Konservativ und voller ungewöhnlicher Ideen - das ideale Feindbild in einem dumpfen Wahlkampf. Durch wütendes, grobschlächtiges Trommelfeuer hat man ihn zum Buhmann gemacht - kein gutes Zeugnis für die Innovationskraft deutscher Politik.
Die Zukunft des Arbeitsmarktes stand auf Platz 1. Soll man warten, bis sich die "Agenda 2010" auswirkt oder soll man durch Entlastung der Arbeitskosten, weniger Bürokratie und mehr Innovation die Schaffung neuer Arbeitsplätze anregen, wie dies die Union vorschlägt.
Mehrwertsteuer-Streit
Ob eine Erhöhung der Mehrwertsteuer den Arbeitslosen hilft, zu neuen Jobs zu kommen, oder gerade sie dadurch an Kaufkraft einbüßen, wie die SPD behauptet, kann theoretisch nicht entschieden werden. Der Souverän aber kann in der Wahlzelle zwischen Regen und Traufe wählen.
Wie bei jeder Wahl in den letzten zwanzig Jahren zeigte auch dieses Mal die Demoskopie die üblichen Verlaufskurven: Die Regierenden müssen zur Hälfte der Legislatur ein Tal der Antipathie durchschreiten. Erst in den heißen Phasen des Wahlkampfes nähern sich die politischen Lager ihrer seit Jahrzehnten ziemlich stabilen Soll-Stärke.
Diesmal war die Optik deshalb etwas verschoben, weil die Ausgangslage dramatisch war: Die SPD auf einem historischen Tief und dann noch die neue Linke, der man im Osten Deutschlands bereits Werte um die 30 Prozent zuschrieb.
Das Schwächeln der Linkspartei, die Irritationen um das CDU-Steuerkonzept, unpassende Zwischenrufe aus München und die Wahlkampf- und Medienstärke der Dioskuren Schröder und Müntefering wirkten sich auf die Sympathiewerte aus. Der Abstand zur CDU wurde in nur drei Wochen halbiert. Gleichwohl beträgt er weiterhin 7 bis 8 Prozentpunkte. Die Wende, der Stimmungsumschwung kam mit dem TV-Duell, das Schröder erwartungsgemäß gewann und mit der Anti-Kirchhof-Kampagne, die Wirkung zeigte. Seriöse Meinungsforscher erklären jedoch hinter vorgehaltener Hand, das es nicht mehr für Rot-Grün reichen werde.