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Das Weihnachtswunder des Fadenwurms

Von Roland Knauer

Wissen
Befindet sich ein Bandwurm in stabiler Umgebung, werden Männchen unnötig.
© Fotolia/Kateryna Kon

Die Jungfernzeugung ist kein weihnachtliches Spezifikum. Einige Tiere haben ganz ohne Männchen Nachwuchs.


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Berlin. Das Weihnachtswunder dürfte für einen Fadenwurm fast schon zum Alltag gehören. Ist doch eine Jungfernzeugung für einige der "Nematoden" genannten Winzlinge durchaus üblich. In bestimmten Situationen verzichten die Weibchen auf männliche Schützenhilfe und bekommen trotzdem Nachwuchs. Auch bei deutlich größeren Tieren wie Echsen, Python-Riesenschlangen oder auch Truthühnern schaffen die Weibchen die Vermehrung notfalls auch ohne das starke Geschlecht.

In der Natur gibt es also durchaus Vorbilder für die Jungfrau Maria, die an Heiligabend in einem Stall bei Bethlehem Jesus zur Welt brachte. Walter Traunspurger, Zoologe an der Uni Bielefeld, kennt einige Tiergruppen, bei denen Jungfernzeugung zum Alltag gehören kann: "Wasserflöhe und Blattläuse können genauso wie Räder- und Bärtierchen auch ohne Männchen Nachkommen in die Welt setzen." Und Nematoden. Fadenwürmer sind anscheinend die häufigsten Tiere auf der Erde, selten scheint die "Parthenogenese" genannte Jungfernzeugung daher nicht zu sein: Im Süßwasser kommen 30 Prozent der Arten auch ohne Männchen aus. Für irgendetwas sind sie aber dann doch nützlich.

Ein Blick ins Erbgut

Um diesen Nutzen zu verstehen, hilft ein Blick ins Erbgut, das in jedem Individuum normal doppelt vorhanden ist. Ein Satz kommt von der Mutter, der andere vom Vater. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung geben beide je einen einfachen Satz des Erbguts weiter. Dieser einfache Satz enthält alle Erbanlagen der Art, setzt sich aber zufällig zusammen.

Bei jeder Vermehrung werden die Erbeigenschaften neu gemischt. Das erhöht die Chancen, dass einer der Nachkommen die richtige Mischung hat, um sich zu behaupten, sollten sich die Umweltbedingungen plötzlich stark ändern. Das kann etwa ein Erreger sein, der neu auftaucht. Jene mit der richtigen Mischung schaffen es, damit fertig zu werden.

Die Männchen sind demnach eine Art Versicherung für unvorhersehbare Zwischenfälle. Hinweise darauf fand der Forscher in der Movile-Höhle nahe der rumänischen Schwarzmeer-Küste. Diese ist mindestens seit Beginn der letzten Eiszeit von der oberirdischen Welt abgeschnitten. Dort gibt es ein sehr einfaches, aber zuverlässig funktionierendes Ökosystem.

Sieben Nematoden-Arten leben dort. Rund zehntausend Tiere hat Traunspurger mikroskopisch untersucht - kein einziges Männchen war darunter. Die wären in der stabilen Umwelt der Höhle auch schlicht überflüssig.

Das Wasser hat dort seit Jahrtausenden stabil 21 Grad Celsius. Auch der hohe Kohlendioxid-Gehalt und andere Bedingungen haben sich seit langer Zeit nicht geändert. Auf eine Versicherung gegen solche Veränderungen können die Fadenwürmer also verzichten.

Auch im Königssee in den Bayerischen Alpen hat der Forscher einen Hinweis gefunden, dass die Natur in stabiler Umwelt auf Männchen verzichtet. 45.263 Nematoden von 116 verschiedenen Arten hat er untersucht.

Trick gegen das Aussterben

In den oberen Wasserschichten kam normal auf jedes Weibchen ein Männchen. Anders sieht es mehr als hundert Meter darunter aus, wo sich die Temperatur und andere Verhältnisse jahreszeitlich kaum ändern. In dieser stabilen Umwelt sinkt der Wert einer Versicherung gegen Veränderungen und prompt finden sich bei den gleichen Arten wie oben zehnmal mehr Weibchen als Männchen.

Mehr als tausend Meter höher gibt es in den Berchtesgadener Bergen Seen, in denen die Verhältnisse alles andere als stabil sind. Mehr als ein halbes Jahr lang herrscht Eis vor, während im Sommer die Sonne den See aufheizt. Trotz solcher Veränderungen fand Traunspurger dort bei den Fadenwürmern kein Männchen. Sogar bei Arten, von denen im Königssee welche unterwegs sind. Es gibt also eine weitere Situation, in der Nematoden auf die Jungfernzeugung zurückgreifen: Für ein im Schlamm nur langsam vorankommendes Weibchen sind bei den harschen Bedingungen im isolierten Lebensraum die Chancen auf eine Begegnung mit einem Männchen bescheiden. Eine Jungfernzeugung verspricht mehr Erfolg.

Aus ähnlichem Grund scheinen auch Wirbeltiere darauf zurückzugreifen: Bei Haien, Geckos, Pythons und Puten gab es nachweisbare Parthenogenesen nur dann, wenn die in von Menschen gehaltenen Weibchen keinem Männchen begegnet waren. Spektakulär sind die Fälle bei Komodo-Waranen in Zoos der englischen Städte Chester und London, die im 21. Jahrhundert ohne männlichen Kontakt Eier legten, aus denen gesunde Jungtiere schlüpften. Diese Tiere haben wie andere Echsen und Vögel im Erbgut W- und Z-Geschlechtschromosomen. Während Weibchen je ein W und ein Z haben, besitzen Männchen zweimal Z. Die Eier eines Weibchens enthalten daher entweder ein Z- oder ein W-Chromosom. Die Samenzellen des Männchens können nur Z-Chromosomen mitbringen, sodass im befruchteten Ei entweder die Kombination ZZ zu einem Männchen heranreift oder aus WZ ein Weibchen wird. Bei einer Jungfernzeugung fehlt das männliche Erbgut, stattdessen verdoppelt sich das weibliche im Ei. Demnach sind die Chromosomen entweder WW und damit nicht lebensfähig oder ZZ und damit ein Männchen.

Säugetiere weniger erfolgreich

Da die Warane auf kleinen indonesischen Inseln leben, kann leicht ein Weibchen auf einer Insel landen, auf der keine Artgenossen leben. Dieser Männer-Mangel löst eine Jungfernzeugung aus, die Hälfte der Eier entwickelt sich nicht, aus der anderen Hälfte schlüpfen nur Männchen. Paart sich die Mutter mit diesen Söhnen, schränkt die unvermeidbare Inzucht zwar die Vielfalt des Erbguts und damit die Anpassungsfähigkeit ein. Aber immerhin hat die Art überlebt.

Aus genau diesem Grund würde Thomas Hildebrand vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin gerne auch bei Säugetieren eine Jungfernzeugung auslösen. Erforscht der Fortpflanzungsspezialist doch die Vermehrung von seltenen Nashorn-Unterarten, von denen nur noch drei oder vier Tiere überlebt haben. Weil künstliche Befruchtungen bei den Tieren schwierig sind, könnte eine Jungfernzeugung solche Unterarten vor dem Aussterben retten. Bei Säugetieren aber wurde bisher erst ein Fall von Parthenogenese bekannt, als vor mehr als 2000 Jahren in einem Stall bei Bethlehem die Jungfrau Maria Jesus zur Welt brachte.