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Das weltweite Arsenal an Biowaffen stellt auch heute noch eine große Bedrohung dar

Von Michael Schmölzer

Politik

Fast dreissig Jahre nach der offiziellen internationalen Verbannung ist das Problem der biotechnologischen Waffen heute keineswegs beseitigt. Können wir die Geister, die während des Kalten Krieges gerufen wurden, heute nicht mehr loswerden? 1972 wurde die " Konvention über biologische Waffen" verabschiedet, in Kraft trat sie 1975. Mittlerweile haben den Vertrag zur Ächtung der Beforschung, Herstellung und Anwendung biotechnologischer Waffen 143 Staaten unterzeichnet- an wirksamen Möglichkeiten zur Überprüfung der Einhaltung mangelt es jedoch.


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Biowaffen sind keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Im Jahre 1347 standen die Tartaren bei der Belagerung der Stadt Kaffa - an der südrussischen Krim gelegen - vor einem schwerwiegenden Problem: Die Festung hatte schier unüberwindliche Mauern, in den Magazinen lagerten Nahrungsmittel für einige Jahre und der Stadtkommandant verfügte über eine gut ausgerüstete Truppe. Ausserdem begann eine Pestepidemie den Belagerern arg zuzusetzen. Die Einnahme Kaffas schien damit endgültig aussichtslos. In dieser Situation hatte der tartarische Kommandant einen ebenso teuflischen wie folgenschweren Einfall: Er ließ einige Pestleichen über die Stadtmauern katapultieren. In der Tat waren die Verteidiger bald derart dezimiert, dass sie den Widerstand einstellen mussten.

Es handelte sich hierbei um den ersten historisch erwiesenen Einsatz einer biologische Waffe. Was der Tartarenhäuptling jedoch nicht wissen konnte und sicher auch nicht geplant hatte war, dass die Seuche über venezianische Handelschiffe nach Europa gelangte und dort ihr zerstörerisches Werk fortsetzen konnte.

Unkontrollierbare Erreger

Anhand dieses, historisch gut belegten Falles, zeigen sich bereits alle Charakteristika der biologischen Kriegsführung, die sich in den folgenden Jahrhunderten kaum verändert haben dürften: Krankheitserreger wirken unkontrollierbar, sie unterscheiden weder zwischen Freund, noch Feind, noch gänzlich Unbeteiligten. Und nur allzuleicht richtet sich die Biowaffe gegen ihre Anwender selbst. Die ersten, die das zu spüren bekamen, waren nämliche Tartaren. Im Endeffekt standen sie vor dem Dilemma, eine unbewohn- und unbesetzbare Stadt in ihren Händen zu halten.

Pocken gegen Indianer

Trotzdem ist die Liste der in der Vergangenheit begangenen Kriegsverbrechen mit biotechnologischen Waffen - oder ihren Vorläufern - reichhaltig: Als erste europäische Großmacht setzten die Briten 1763 Krankheitserreger zur Erreichung eines militärischen Zieles ein. Da sie den Übergriffen kanadischer Indianer mit konventionellen Mitteln nicht Herr werden konnten, spielten sie den Ureinwohnern pockenverseuchte Decken aus eigenen Lazaretten zu. Nach einiger Zeit waren 95% der gesamten Population ausgerottet. In den dreissiger und vierziger Jahren dieses Jahrhunderts gingen die Japaner bei der Annexion großer Teile Chinas mit Pestviren gegen Widerständische vor.

Milzbrand und Anthrax

In den Jahren 1941 bis 1843 experimentierten die Engländer auf der Schottland vorgelagerten Insel Gruinard mit Milzbrand-Erregern und Anthrax- Sporen. Letztere verursachen einen grauenvollen Erstickungstod. Nach damaligen Plänen wurde erwogen, Hitlerdeutschland mit derartigen Viren zu verseuchen. Es wurden zu diesem Zweck eigene Schüttbomben konstruiert, die eine effektivere Verteilungswirkung garantieren sollten. Schließlich wurde von diesen Plänen doch Abstand genommen, da eine Gefährdung der eigenen Bevölkerung, sowie der britischen Invasionstruppen nicht in Kauf zu nehmen war.

Als einziges Resultat dieser Experimente blieb ein für Jahrzehnte kontaminiertes Eiland, das erst in den achziger Jahren unter großem Aufwand entseucht werden konnte. Britische Experten halten eine Besiedelung von Gruinard allerdings immer noch für wenig empfehlenswert.

Ende der vierziger Jahre verfügten neben den Engländern nur die USA und die UdSSR über nennenswerte Bestände an biotechnologischem Material. Allerdings war das Bewusstsein über die Unkontrollierbarkeit dieser Kampfstoffe bereits fortgeschritten. So stiegen die Briten bereits 1950 aus ihrem Programm aus. Präsident Nixon kündigte 1969 unter dem Eindruck massiver Proteste gegen die militärischen Praktiken der USA in Vietnam die vorbehaltlose Abschaffung des amerikanischen Biowaffen-Arsenals an, ab 1970 sollten auch keine chemischen Giftstoffe mehr für militärische Zwecke produziert werden.

Abkommen gegen Biowaffen

Der britische Labour-Premierminister Harold Wilson schlug in der Folge ein Abkommen vor, das die Forschung, Entwicklung und Anwendung dieser Kampfstoffe verbieten sollte. Bereits 1925 war ein Passus ähnlichen Inhalts im Rahmen der Genfer Protokolle beschlossen und von 38 Staaten unterzeichnet worden. Damals waren die verheerenden Auswirkungen von Senfgas- und Grünkreuzgranaten, die tausenden von Soldaten die Haut, Atemwege und Augen verätzt und die europäische Bevölkerung schockiert hatten, der Anlass.

Die "Konvention über biologische Waffen", die 1975 in Kraft trat und von den USA sowie der Sowjetunion unterzeichnet wurde, sollte einen Neubeginn darstellen: Eine der Hauptüberlegungen der Initiatoren war, dass nur eine weltweite Verbannung biotechnologischer Kampfstoffe garantieren könne, dass diese Waffen nicht über "undichte Stellen" terroristischen Staaten oder Gruppen in die Hände fallen.

Bruch der Vereinbarungen

Dass die Vereinbarungen von 1975 in der Folge von mehreren Staaten wiederholt gebrochen wurden ist allgemein erwiesen. In welchem Ausmaß dies geschah, ist zumindest was die USA und einige Länder der Dritten Welt betrifft, stark umstritten und Gegenstand wildester Spekulationen. Was die russischen Bemühungen im Bereich der Forschung, Entwicklung und Produktion biotechnologischer Waffen während der achziger Jahre betrifft, so könnte ein jüngst erschienenes Buch von Ken Alibek einigen Aufschluss geben. In "Biohazard: The true story of the largest covert biological weapons program in the world - told from the man who ran it" (auf Deutsch unter dem Titel "Direktorium 15: Russlands Geheimpläne für den Biologischen Krieg" erschienen) versucht der Autor die Dimensionen, die das sowjetische Virenprogramm während des Kalten Krieges und kurz danach angenommen hatte, zu umreißen.

Ken Alibek, eigentlich Kanatjan Alibekow, kann aus erster Hand berichten: Denn der 1950 in Kasachstan geborene Mikrobiologe war von 1987 bis 1992 stellvertretender Direktor des sowjetischen Konzerns "Biopreperat", einer Produktionsstätte mit 32 000 Mitarbeitern, hinter deren unscheinbarer Fassade die weltweit größte Produktionsstätte für biotechnologische Kampfmittel verborgen gewesen sein soll.

Heute hat Alibek längst die Seiten gewechselt und arbeitet als wissenschaftlicher Leiter bei der US-amerikanischen Firma Hadron, die sich auf die Erforschung und Entwicklung von Pharmaprodukten spezialisiert hat, die gegen die Wirkung von Biowaffen immunisieren sollen.

Über die genauen Umstände, die ihn 1992 zur Flucht in die USA bewogen haben, will Alibek offiziell keine Stellung nehmen. Jedenfalls gibt er sich geläutert und sieht seine neue Aufgabe vor allem darin, "alte Fehler zumindest teilweise wieder gutzumachen und die amerikanische Bevölkerung vor der Bedrohung durch Biowaffen zu warnen".

Geheime Produktionsstätten

Und tatsächlich: was Alibek zu berichten weiß, ist keineswegs beruhigend. Seiner Darstellung zufolge hätten die Sowjets die 1975-er Konvention als eine ausgezeichnete Gelegenheit betrachtet, endlich ein Monopol an biologischen Waffen zu erlangen. Hier verfügt der ehemalige Biopreperat-Vize über schauriges Detailwissen: So hätte die weltweite Ausrottung der Pocken durch die WHO und die damit wegfallende Impfung bei Säuglingen die UdSSR dazu veranlasst, eben diesen Virus verstärkt zu züchten. 1990 soll eine Produktionsstätte errichtet worden sein die, unterirdisch und atombombengeschützt, jährlich achzig bis hundert Tonnen von Pockenviren produzieren konnte. Eine irrwitzige Größe wenn man bedenkt, dass bereits eine Tonne weltweit alles ungeimpfte Leben vernichten kann. Es handelte sich hierbei um eine gezielte Aktion gegen Babies, da die Mehrheit der erwachsenen Erdbevölkerung gegen Pocken geimpft ist. Aber auch dieses "Handikap" wusste die sowjetische Forschung laut Alibek dadurch zu umgehen, dass über Genmanipulationen völlig neue, resistentere und gefährlichere Krankheitserreger hergestellt wurden, gegen die eine konventionelle Impfung nutzlos wäre.

Um die Experimente möglichst wirklichkeitsnah zu gestalten, arrangierte Alibek eigenen Aussagen zufolge Massenversuche an lebenden Affen. Die Tiere, im Durchschnitt 100 bis 500, wurden zu diesem Zweck unter freiem Himmel an Pflöcke gekettet und in etwa 75 Fuß Höhe eine Bombe zur Explosion gebracht, die entweder mit Milzbrand, Tularämie oder Pestviren bestückt war. Die darauffolgenden Schreckensszenen wurden von Wissenschaftlern akribisch beobachtet und dokumentiert. Als es Alibek schließlich gelang, selbst geimpfte Tiere zu infizieren, wurde er in den Rang eines Obersten befördert und mit Auszeichnungen überhäuft.

Privilegierte Forscherelite

"Wie er das alles mit seinem Gewissen habe vereinbaren können?", wurde Alibek anlässlich des Wirtschaftsgipfels in Davos vor einigen Wochen in einem "Spiegel"-Interview gefragt.

Diese Fragen hätte er sich nicht gestellt, meinte Alibek. In erster Linie habe er sich als Mitglied einer privilegierten Elite gefühlt. Schon in jungen Jahren hätte er über das Doppelte verdient, was einem russischen Minister zustand, hätte eine Luxuslimousine samt Chauffeur zur Verfügung gehabt, sowie eine ständige Verbindung zu den Spitzen der KP. Ausserdem seien er und seine Kollegen bewusst über die wahren Hintergründe ihres Auftrags getäuscht worden. Denn ihnen sei mitgeteilt worden, dass es auf ihrem Gebiet einen Vorsprung der USA aufzuholen gäbe und ihr Handeln nicht weniger als das zukünftige Überleben des russischen Volkes garantiere.

Folgenschwere Unfälle

Dass auch Menschen den sowjetischen Experimenten im Bereich der biotechnologischen Waffenproduktion zu Opfer fielen, will Alibek erst gar nicht bestreiten. Der folgenschwerste Unfall ereignete sich im November 1979 in der Nähe von Sverdlovsk, in einer Fabrik, die getrocknete Milzbrandsporen herstellte. Weil bei einem Schichtwechsel ein Filtern fälschlicherweise nicht ausgetauscht wurde, gelangten einige Gramm der Sporen ins Freie und wurden vom Wind über die 250 000 Einwohner zählende Stadt geweht. Die Schätzungen über die darauffolgenden Todesfälle pendeln sich zwischen 60 und 100 ein. Der Vorfall wurde vertuscht, KGB-Beamte gaben sich als Ärzte aus und stellten falsche Totenscheine aus. Die Schuld an den Erkrankungen wurde auf illegal geschlachtetes Fleisch und auf die sverdlovsker Straßenhunde geschoben.

"Bombe des armen Mannes"

Mittlerweile stehen zahlreiche Staaten im Verdacht, Waffen der biologischen Kriegsführung herzustellen und zu besitzen. Unter ihnen befinden sich Nordkorea, der Iran, Irak, Kuba, Israel, Ägypten und auch die Vereinigten Staaten. Da B- Waffen äußerst kostengünstig herzustellen sind, werden sie häufig als "Atombombe des armen Mannes" bezeichnet. Ihr Know-How zur Produktion von Biowaffen haben Staaten wie der Irak häufig aus dem Westen, der bei der Verfolgung kurzfristiger außenpolitischer Ziele oft die langfristigen Konsequenzen von Waffen- und Wissenstransfers nicht bedenkt. Herstellbar sind Krankheitserreger wie Ebola, Lassa, Milzbrand mittlerweile in jedem mittelmäßig ausgestatteten Labor von der Größe eines Handkoffers. Daher ist es für Sicherheitsexperten auch nicht undenkbar, dass fanatisierte Terrororganisationen oder auch Einzelpersonen in den Besitz von B-Waffen gelangen könnten. Spätestens seit dem Anschlag islamischer Fundamentalisten auf das World-Trade Center 1993 und dem Giftgas- Attentat der japanischen Aum- Sekte in der Tokioter U-Bahn ist auch eine breite Öffentlichkeit auf das Bedrohungspotential aufmerksam geworden, das hier schlummert.

Vor allem in den USA wird dieses Problem ernst genommen. Seit 1997 sind in 120 amerikanischen Städten schnelle Eingreiftruppen geschaffen worden, die im Fall eines biologischen oder chemischen Angriffs die nötigen Gegenmaßnahmen einleiten sollen. Aus Furcht vor Anschlägen wird auch wieder die Wirksamkeit des seit Jahren nicht mehr gebräuchlichen Anti-Pocken Impfstoffes "Dryvax" getestet. Da in den Lagern nur noch sieben Millionen Dosen des Impfstoffes vorhanden sind, im schlimmsten Fall aber 250 Millionen Menschen geimpft werden müssten, wird die Wirkung von Verdünnungen 1:10 und 1:100 untersucht.

Auch das österreichische Bundesheer zieht die Möglichkeit von Attacken mit B-Waffen in Betracht und versucht seine Soldaten dementsprechend auszubilden und zu schützen, wie ein Sprecher des Verteidigungsministeriums versichert. Weiters verfügt das Bundesheer über eigene Labors und Spezialisten, die natürlich zu rein defensiven Zwecken Forschung im Bereich Kontamination durch biologisch-chemische Waffen betreiben.