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Das Wir als Garant für das Überleben

Von Alexandra Grass

Wissen

Martina Leibovici-Mühlberger über den Weg, der den Menschen gestärkt aus der Corona-Krise hervorgehen lässt.


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Einst war der Mensch in der Mitte der Futterkette angesiedelt, mehrmals vom Aussterben bedroht. Dass er heute an der Spitze steht, hat er zwei Komponenten zu verdanken, die ihn prägen: Gemeinschaftssinn und Kreativität. "Erst das Miteinander, die Solidarität, Ideenreichtum und die Zusammenrottung im sozialen System haben uns so erfolgreich gemacht", sagt die Wiener Psychotherapeutin, Erziehungsberaterin und Buchautorin Martina Leibovici-Mühlberger im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Der Mensch braucht die unmittelbare Nähe zu seinem Gegenüber, auch, um in der unbarmherzigen Außenwelt bestehen zu können. Nun gefährdet ein Virus nicht nur die Gesundheit des Einzelnen, sondern auch jenes System, das der Mensch dringend zum Überleben benötigt: das Wir.

"Uns trifft es so hart, weil wir vergleichsweise schutzlose, umweltoffene, große Säugetiere sind, die noch dazu beständig radikal sozial miteinander abhängen müssen, damit wir uns wohlfühlen", beschreibt die Medizinerin die derzeitige Lage angesichts der Corona-Krise. Wir sind 7,8 Milliarden Menschen, die den Erdball bevölkern und sich rasend um den Globus bewegen. Ob Geschäftsleben, Tourismus oder Migration - die Art, wie wir Zivilisation leben, ist der beste Wirt für ein Virus. Ein Virus namens Sars-CoV-2, das uns derzeit unbarmherzig in die Knie zwingt - auf vielen Ebenen. Systemanalytiker und Virologen haben deswegen schon lange mit einem solchen Szenario gerechnet.

Die Frage "Kann das wiederkommen?" ist daher klar mit Ja zu beantworten. Doch ist das nicht die einzige Frage, die uns dieser Tage Angstträume bereitet. Wie soll das werden? Wie werden wir dann leben? Wie dieser Krise entkommen? Wo befinden wir uns?

Wir befinden uns an einer historischen Weggabelung, ist sich Leibovici-Mühlberger sicher und zeigt in ihrem neuen Buch "Startklar - Aufbruch in die Welt nach Covid-19" (Verlag edition a) drei mögliche Routen auf, die dem Menschen offenstehen.

Route eins: das Beharren im narzisstischen Ideal - der infantil-regressive Weg. "Dieser spricht alle an, die gerne an alten Gewohnheiten und Selbstbildern festhalten. Die wollen auch keine neuen Kontrollmodelle akzeptieren, sondern beinhart genauso weitermachen wie eben bisher", beschreibt die Autorin in ihrem Buch. Verleugnung als möglicher Ansatz.

Nagelprobe für liberale Demokratien

Route zwei: Kontrolloffensive gegen den schleichenden Kontrollverlust - der ödipal verstrickte Weg. Ischgl hat uns hautnah spüren lassen, was ein Einziger bewirken kann. "Also könnten wir daraus schließen, wir sind füreinander gefährlich", so die Medizinerin. Also müssen wir Kontrolle ausüben. Die Hochtechnologie ermöglicht uns Big Data, die Verfolgung auf Schritt und Tritt. "Bis zum grünen Barcode am Handy, den man haben muss, damit man von der Josefstadt nach Neubau hinüberwechseln darf. Da hör’ ich schon den Blockwart trappen, der in China ja funktioniert."

Dieser Weg führe uns in eine "sehr utilitaristische Technologiegesellschaft, die sich einem allverwaltenden Algorithmus unterwirft, einem großen Vater, der die Wahrheit für uns festlegt". Nach dem Motto: Tut leid, die Bürgerrechte haben wir leider kübeln müssen, aber angesichts des Todes: Was geht es Ihnen da um Freiheit?

Beständige Kontrolle scheint nicht nur eine Maßnahme, ein lästiges Übel, zu sein, die uns im Hier und Jetzt beschäftigt, sondern auch ein prägendes Moment für die Zukunft. "Es entstehen Menschen, die ihr Menschsein und ihre Lebendigkeit aufgeben und sich einer technokratischen Verwaltung unterwerfen. Das ist so ein Biomassetechnologieverschränkungsorganismus, zu dem der Mensch wird - und das über Generationen hinweg", warnt die Expertin.

Die Covid-Krise sieht sie als grundlegende ideelle Krise, als Nagelprobe für liberale Demokratien. Und sie hofft auf die Wahl von Route drei: Werterevolution, in der Menschsein einen Wert bekommt - der integrierte Weg einer gereift autonomen Zivilisation. Wichtig sei nun der "Social Mood" - die entsprechende soziale Stimmung. "Wir brauchen den Homo sapiens socialis" - jenen Menschen, der Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühl in sich trägt und das Beste in sich und für seine Umwelt entwickeln will. Wenn das der "Social Mood" ist, "dann ist die Politik in Gestalt der Politiker in Wirklichkeit nur mehr Umsetzer".

Hej, das ist historisch!

Derzeit mangelt es dem Menschen an vielem - sowohl an gewohnten Ritualen, an Liebgewonnenem, an Materiellem und vor allem auch an grundlegend menschlichen Bedürfnissen. Fragt man Menschen, was ihnen in den letzten Wochen besonders fehlt, hört man oft: "Dass ich niemanden umarmen hab’ können." Mit Abstandsregeln, Mundschutz und der Angst vor Ansteckung droht eine Säule der Menschheit zu bröckeln. "Wir brauchen Bindung und Beziehung. Und wir müssen unsere Menschennatur respektieren und akzeptieren, sonst führen wir uns selbst ad absurdum. Eine Menschheit, die sich ad absurdum führt, die hat wirklich das Ende der Fahnenstange erreicht - nicht nur in ihrem Tun, sondern auch in ihrem Sein", so Leibovici-Mühlberger. Auch das sollte zu denken geben.

Österreich sieht die Expertin auf einem guten Weg. Was allerdings nicht dem widerspreche, "dass wir wachsam und achtsam sein müssen, denn die Unterminierung von Bürgerrechten und humanistischen Prinzipien durch Angst kann sehr leicht passieren".

"Hej, das ist historisch, was da passiert. Du bist dabei. Setz dich damit auseinander!", will Leibovici-Mühlberger den Diskurs weiter anregen und weitertragen.

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