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Unsere Zeit ist skeptisch gegen jede Vorstellung einer endgültigen Wahrheit. Dieser Relativismus ist eine moralisch fragwürdige Haltung, die sich kritischen Nachfragen stellen muss.
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Unsere Gesellschaft wird aufgefordert, "Gut und Böse auf die gleiche Stufe zu stellen", beklagte Vladimir Putin in seiner Rede an die Nation zum 20-jährigen Jubiläum der russischen Verfassung im Dezember 2013. An dieser Stelle muss man Putin wohl recht geben! Dass gerade er als Moral-Apostel auftritt und diese Anklage erhebt, sollte uns allerdings zu denken geben.
Seit einigen Jahrzehnten erleben wir verstärkt eine Rebellion der jüngeren Generationen gegen das Vergangene. So werden auch Moralvorstellungen zum Opfer dieser Entwicklungen. Die Jugend hat ihre Identität und Orientierung in einer hochtechnologisierten und globalisierten Welt noch nicht entdeckt. Sie konsumiert all das, was sie gerade anziehend findet. Alle Grenzen sollen verschwinden, eine endgültige Wahrheit wird abgelehnt. Sie wird als Quelle von Streitigkeiten und Zerwürfnissen abgestempelt. Dies ist nicht zuletzt ein Nebenprodukt des menschlichen Fortschritts.
Der Relativismus ist sozusagen die Krankheit unseres Zeitalters. Jeder Vertreter einer traditionellen Vorstellung wird auf dem medialen Scheiterhaufen verbrannt. Es interessiert nicht, was wahr ist, sondern was man sagen darf. In Diskursen gilt das Recht des Stärkeren.
Gültige Normen
Für Kritiker, die den Gut-und-Böse-Dualismus als eine "kulturelle Erfindung neueren Datums" bezeichnen, besitzt diese Kategorie keine Allgemeingültigkeit. Trotzdem würde jeder vernünftige Mensch zustimmen: Barmherzigkeit ist besser als Hartherzigkeit, Treue ist besser als Untreue, Wahrheit besser als Lüge. Diebstahl, Kindesmisshandlung und Vergewaltigung sind immer schlecht. Sagen wir etwa, dass eine Handlung schon deshalb gut ist, weil sie für die Täter befriedigend war?
Kritiker würden entgegnen, dass wir solche Taten nur verabscheuen, weil ein biologischer und sozialer Nutzen von diesem Abscheu ausginge. Doch Freundschaft, Dankbarkeit oder Hilfsbereitschaft bleiben etwas Gutes, auch wenn morgen die Welt schon unterginge.
"Ich bin das notwendige Böse!" verkündet Batmans Erzfeind, Bane, im Hollywood-Blockbuster "The Dark Knight Rises". Seine Maske, eine Art schwarzer Ledermaulkorb, hilft ihm dabei, diese undurchschaubare, dunkle Seite darzustellen. Bane erläutert den Effekt: "Niemand interessierte sich für mich, bis ich die Maske aufhatte". Er proklamiert: "Es spielt keine Rolle, wer wir sind. Alles was wichtig ist, ist unser Plan". Ein Plan, von dem sich das Volk in Zeiten der Krise gerne verführen lässt. Allerdings ist Banes Plan äußerst widersprüchlich, was das Volk jedoch nicht bemerkt. Er will dem Volk die verkommene Stadt zurückgeben und gleichzeitig die Stadt zerstören.
Nun wird jemand gesucht, der die Stadt rettet. Gotham City wartet sehnsüchtig auf den Helden. Aber Bruce Wayne alias Batman ist eingerostet. Er vegetiert vor sich hin und verlässt nicht einmal sein Haus. Sein Butler findet wie immer die richtigen Worte: "Sie leben nicht, Sie warten bloß, dass sich wieder etwas zum Schlechteren wendet".
Es soll deutlich gemacht werden, dass Wayne keinen Daseinsgrund hätte, wenn ewiger Frieden vorherrschen würde. Als Batman kann er allerdings nur Gutes vollbringen, wenn er Gesetze bricht und seiner eigenen dunklen Seite ab und zu freien Lauf lässt. Es entsteht der Eindruck, dass das absolut Gute gar nicht existieren kann. Auf der anderen Seite sind Bane und seine Gefolgsleute ebenso bemitleidenswerte Kreaturen. Sie halten die bestehende Ordnung für verkommen und sehen sich als Stifter einer reinigenden Vernichtung.
Die Signatur des Bösen
Diese Idee des "notwendigen" Bösen dürfen wir nicht gelten lassen. Denn sie besitzt große, logische Mängel. Hans-Ludwig Körber, ein forensischer Psychiater, beschreibt die Signatur des Bösen auf folgende Weise: "Im Angesicht des Bösen sind wir fassungslos, empört, die Welt ist aus den Fugen - weil jemand sie bewusst zerstört. [. . .] Das Böse ist umso augenfälliger, je eindeutiger es darauf abzielt, ganz bewusst das Schöne, das Heile, das Kindliche, die Zukunft zu zerstören". Wenn das Böse also für das Zerstörerische steht, das Gute hingegen für das Schöpferische und Erhaltende, dann könnte das Gute sehr gut ohne das Böse auskommen. Denn das Böse kann ja nur etwas zerstören, was schon da ist.
Man kommt also zwangsläufig zur Erkenntnis, dass das Böse keine unabhängige Existenz besitzt. Mirza Tahir Ahmad (1928-2003), ein islamischer Universalgelehrter, beschreibt dieses Verhältnis im Kontext der monotheistischen Religionen in seinem Werk "Revelation, Rationality, Knowledge & Truth" überaus treffend. Ihm zufolge besitzt das Böse keinerlei Substanz. Es ist vergleichbar mit einem Schatten, der erst dadurch entsteht, dass Licht durch ein Objekt gebrochen wird. Ein Objekt kann also erst zu einer Quelle von Dunkelheit werden, wenn es kein Licht passieren lässt. Dementsprechend erschafft nicht das Licht den Schatten, sondern die Abwesenheit von Licht lässt den Schatten entstehen. Gleichermaßen ist das Böse nichts anderes als ein Zustand, der durch die Abwesenheit des Guten zum Vorschein kommt.
Goethes "Faust" stellt dieses Verhältnis zwischen Gut und Böse anschaulich dar. Sein Werk beginnt mit einem Gespräch zwischen Gott, dem Herrn und dem Teufel, Mephisto. Der Teufel gibt an, lediglich ein Teil der Schöpfung Gottes zu sein. Er macht deutlich, dass er geschaffen wurde, um den Menschen zur Schaffung von Gutem anzuregen. Als Faust zum ersten Mal auf Mephisto trifft und ihn fragt, wer er denn überhaupt sei, bezeichnet er sich selbst als "Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft".
Mephisto wurde also erschaffen, um das Böse sichtbar zu machen. Der Teufel wettet, dass es ihm gelingen könne, Faust von dem rechten Weg abzubringen. Somit beginnt ein Test, der für Faust ein Kampf zwischen Gut und Böse bedeutet. Dabei ist von Anfang an klar, dass Mephisto nicht über den Tod hinaus wirken darf und Gott betont: "Solang’ er auf der Erde lebt, Solange sei dir’s nicht verboten." Auch im weiteren Verlauf wird immer wieder deutlich, dass Mephisto selbst eher machtlos ist. Als er einen Verjüngungstrank für Faust benötigt, muss eine Hexe diesen Trank für ihn brauen und es heißt: "Der Teufel hat sie’s zwar gelehrt; allein der Teufel kann’s nicht machen".
Mephisto schafft es, den Gelehrten, Faust, aus seiner Sinnkrise heraus von dem ursprünglichen Ziel, zu verstehen, wie die Welt funktioniert, abzubringen. Ihm gelingt es, Faust durch seine Verlockungen dazu zu bringen, sich nicht dem großen Ganzen zuzuwenden, sondern sich seine eigene, kleine und beschränkte Welt aufzubauen. Mephisto kann Faust immer wieder dazu bringen, seine Bedenken aufzugeben und ebnet damit den Weg zum Untergang.
Es kommt zum entscheidenden Satz Mephistos als Gretchen, die Geliebte Fausts, im Kerker sitzt, da sie Faust zuliebe ihre Mutter umgebracht und ihr Kind ertränkt hat. Faust bittet den Teufel um Hilfe. Doch der erwidert: "Wer war’s, der sie ins Verderben stürzte? Ich oder du?"
Das letzte Wort
Was lehrt uns Goethes Faust? Es ist nicht irgendein Schicksal oder der Teufel, dem wir unsere eigenen Fehltritte in die Schuhe schieben können. Es ist der Mensch, mit seinem Verstand, der schuldfähig ist. Denn er besitzt den freien Willen, für das Gute oder das Böse. Aufgrund seiner Fähigkeit zur Einsicht trägt er die Verantwortung für sein Handeln. Nicht die wechselnden Bedürfnisse von Individuen oder Gruppen sollen darüber entscheiden dürfen, was Gut und Böse ist.
Würden wir versuchen, jeden moralischen Maßstab zu relativieren, müssten wir letztlich beim absoluten Skeptizismus landen. Um dies zu vermeiden, muss sich der Mensch als wahrheitsfähig begreifen. Die moralischen Botschaften, die durch die Menschheitsgeschichte an uns herangetragen werden, sollten nicht allein deshalb abgelehnt werden, weil sie ihren Ursprung in den Religionen haben.
Ein Relativist könnte sagen: "Wir brauchen kein Gut und Böse! Jeder soll nach seiner Moral leben. Meine Moral sagt mir, dass ich meine Mutter töten soll". Solch ein Mensch, der keinerlei Werteunterschiede kennt, braucht sicherlich Erfahrung, die ihn eines Besseren belehrt. Kein Argument der Welt würde dieser Relativist gelten lassen.
Sprechen wir jedoch von einem allgemeingültigen Maßstab, dann bedarf es der Idee einer gemeinsamen Wahrheit, eines übereinstimmenden Willens. Erst dann kann es um eine Gesellschaft des guten und richtigen Lebens gehen. Das Böse darf nicht das letzte Wort haben und Erich Kästners weise Worte werden zweifellos ihre Gültigkeit behalten: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es".
Tahir Chaudry arbeitet als Journalist, Blogger und Dokumentarfilmer. Er studiert Philosophie und Islamwissenschaften in Kiel. Weitere Infos: http://tahirchaudhry.de/me.html