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"Das Wort ‚Grenzöffnung‘ hat für Orbán keinen guten Klang"

Von WZ-Korrespondentin Kathrin Lauer

Politik

Ungarns Regierende tun sich mit Feierlichkeiten anlässlich des historischen Wendepunkts vor 30 Jahren schwer.


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Budapest. Wie viele Ungarn würden diesen Satz des ÖVP-Politikers Alois Mock (1934 bis 2017) heute noch gutheißen? "Es ist dies auch eine große Hoffnung, dass eines Tages in wenigen Jahren in ganz Europa das, was uns trennt an Mauern und Drahtzäunen, endgültig verschwindet." Das sagte Mock am 27. Juni 1989 in TV-Kameras aus aller Welt bei Fertörákos (St.Margarethen), nachdem der damalige österreichische Außenminister zusammen mit seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn (1932 bis 2013) in einem gewollten Publicity-Akt ein Stück vom Stacheldrahtzaun durchschnitten hatte - der damals nicht nur die beiden Ländern trennte, sondern zwei Welten: eine freie, demokratische im Westen Europas und eine unfreie im Osten. Wobei Ungarn damals unter den "Gulaschkommunisten", die sich selbst wegreformierten, noch der freieste Fleck im Lager des Warschauer Pakts war. Gut vier Monate später sollte - auch als Folge der ungarischen Grenzöffnung - mit der Berliner Mauer der Eiserne Vorhang endgültig fallen.

30 Jahre später tun sich Ungarns Regierende unter Viktor Orbán schwer mit dem Feiern des historischen Wendepunkts von damals. "Das Wort ‚Grenzöffnung‘ hat für Orbán keinen guten Klang", sagt der Ökonom und Politologe Péter Balázs zur "Wiener Zeitung". Der rechtsnationale Regierungschef hat vor drei Jahren genau das Gegenteil dessen getan, was die Reformkommunisten 1989 vollbracht hatten. 2015 ließ er an den Grenzen zu Serbien und Kroatien einen Stacheldrahtzaun zur Abschreckung von Flüchtlingen aus den Kriegen des Nahen Ostens bauen. Und er benutzt das Thema weiterhin zu seiner Profilierung zu Hause und in Europa.

Balázs war 1989 ein aufstrebender Funktionär im Ministerium für internationale Wirtschaftsbeziehungen in Budapest. Später wurde er EU-Botschafter, EU-Kommissar und Außenminister der 2010 abgewählten sozialliberalen Regierung seines Landes. Heute ist er Professor an der vom aus Ungarn stammenden George Soros gegründeten Budapester Universität CEU. Deren US-akkreditierte Studiengänge müssen im Herbst nach Wien umziehen, weil Orbán den liberalen Geist der offenen Gesellschaft an der CEU zum Gegner auserkoren hat.

Als Mock und Horn mit der Zange zu Tat schritten, hatten die Ungarn eigentlich ganz andere Reizthemen im Kopf, erinnert sich Balázs. Genau zwei Wochen vorher, am 13. Juni, hatten die ersten Verhandlungen zwischen der kommunistischen Regierung und Oppositionellen am Runden Tisch begonnen. Vor allem aber waren am 16. Juni 1989 Imre Nagy und seine Kampfgenossen feierlich neu bestattet worden. "Das war für die Ungarn die ganz große Wende", sagt Balász. Nagy war der Held des antistalinistischen Volksaufstands von 1956, über den man bis dahin in Ungarn offiziell gar nicht sprechen durfte. Er war Ministerpräsident der kurzlebigen, von den Sowjets zerschlagenen Revolutionsregierung im Oktober/November 1956 und wurde 1958 in einem Geheimprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Orbán-Vertraute: "Kein Held"

Seine Leiche war erst im Gefängnishof verscharrt und 1961 unter falschem Namen auf einem Friedhof beerdigt worden. Seine Rehabilitierung durch die Umbettung 1989, begleitet von einer Zeremonie am Budapester Heldenplatz unter Beteiligung hunderttausender Ungarn, war das Schlüsselerlebnis, das den Massen die Auflösung des kommunistischen Systems signalisierte. Bei diesem Akt betrat übrigens auch erstmals Viktor Orbán die große Bühne. Der Politiker des damals noch liberalen Fidesz (Bund Junger Demokraten) hielt am Heldenplatz seine berühmte Rede, in der er den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn verlangte.

Ebenso wie die Grenzöffnung von 1989 ist auch Nagy kein angenehmes Thema für die Orbán-Regierung.

Den Ton für die Neuinterpretation der Geschichte gab Orbáns Beraterin und Propagandistin Mária Schmidt 2016 an, als sie erklärte, Nagy sei "kein Held" gewesen, sondern ein kommunistischer Politiker, der den Ereignissen "hinterher geschlendert" sei und außerdem als Innenminister für das repressive Regime mitverantwortlich gewesen sei. Heruntergespielt wird damit das Faktum, dass ein überzeugter Leninist wie Nagy damals den ungeheuren Mut besessen hat, ein Mehrparteiensystem und den Austritt aus dem Warschauer Pakt zu verlangen. Aus Schmidts Sicht waren die damaligen Straßenkämpfer die einzigen Helden. Im vergangenen Jahr ließ die von Orbáns Partei regierte Stadt Budapest das Nagy-Denkmal aus der Nähe des Parlaments entfernen.

"Orbáns Regierung ist dabei, die Geschichte umzuschreiben", sagt Péter Balázs. Er rechnet nicht damit, dass die Regierung die Grenzöffnung von 1989 groß feiern wird. Nicht nur, weil der neue Grenzzaun gegen Flüchtlinge die Propaganda dominiert, sondern auch, weil die Ereignisse von damals das Werk der Wendekommunisten waren. Allenfalls eine Etappe der Ereignisse - das sogenannte Paneuropäische Picknick vom 19. August 1989 - komme für Orbán als Grund zum Feiern in Frage, weil dieser Akt auf eine Initiative der Paneuropa-Union von Otto Habsburg und oppositionellen ungarischen Aktivisten zurückgeht. Dass damals auch die kommunistische Regierung unter Ministerpräsident Miklós Németh und Außenminister Horn ihre Rolle hatten, dürfte die heutige Regierung herunterspielen.

Ein Picknick als Testlauf

Das "Picknick" war offiziell als zwangloses Treffen von Ungarn und Österreichern geplant gewesen, mit einer dreistündigen Grenzöffnung. Hunderte DDR-Bürger nutzten diese zur Flucht nach Österreich. Ohne das von oben verordnete Wegschauen der ungarischen Grenzschützer hätte der Akt blutig ausgehen können. Wie Németh 2014 der ungarischen Zeitschrift HVG erzählte, war dieses "Picknick" der "letzte Test", um herauszufinden, wie Moskau auf Ungarns Umgang mit den DDR-Bürgern reagieren würde, die zu dem Zeitpunkt massenhaft nach Ungarn gekommen waren, mit dem Ziel, in den Westen zu gelangen. Es war der letzte Test vor der endgültigen Grenzöffnung in der Nacht vom 10. aufden 11. September 1989.

Vorausgegangen waren diesem Akt viele Etappen, die man im Nachhinein wohl als gleichermaßen wichtig betrachten kann. Zunächst schlug der ungarische Grenzschutz schon 1987 den Abbau des Grenzzauns samt seines elektrischen Alarmsystems vor, aufgrund der vielen Fehlalarme durch Regen und wilde Tiere. Ein neuer Zaun aus rostfreiem Stahl hätte nur teuer aus Westeuropa importiert werden können. Die Landminen an der Grenze waren vorher schon entfernt worden.

Gorbatschows Desinteresse

Am 28. Februar 1989 beschloss das Politbüro der kommunistischen Partei in Budapest die Abschaffung der Elektro-Alarmanlage. Am 3. März holte sich Ministerpräsident Németh dafür von Michail Gorbatschow das Plazet - der Kremlchef erklärte bei dem Treffen, ihn interessiere es nicht, wie Ungarn seine Grenze schütze, und im Übrigen werde es keine Wiederholung von 1956 geben, solange er im Amt bleibe. Wie lange würde Gorbatschow durchhalten? Hundertprozentig traute Németh, wie er später erzählte, der Moskauer Haltung zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Gleich nach diesem Treffen begann Ungarn ohne Publikum mit dem Abbau des Grenzzauns - und zwar eines dreieinhalb Kilometer langen Stücks bei Rajka, dicht am Dreiländereck mit Österreich und der damaligen Tschechoslowakei. Es ging Németh darum, dass Österreich, aber auch die nahe stationierten sowjetischen Militärs das Geschehen auf jeden Fall mitbekamen. Es war, wie die folgenden Schritte, auch ein Test Richtung Moskau, der positiv ausfiel, erzählte Németh in HVG. Ihm fiel dazu auch seine Begegnung mit Gorbatschow beim letzten Treffen des Warschauer Pakts ein, im Juli 1989 in Bukarest. Gorbatschow habe damals den Ungarn beiläufig gefragt, wie es "seinen DDRlern am Plattensee" gehe. Der Kremlchef wusste demnach alles und ließ den Dingen ihren Lauf.

Erst am 2. Mai gab es zum Zaunabbau gut zehn Kilometer weiter südlich von Rajka, bei Hegyeshalom, eine internationale Pressekonferenz - die aber weitgehend unbeachtet blieb. Daraufhin wurde - nach ungarischer Lesart auf Initiative von Gyula Horn - am 27. Juni der vollends medienwirksame Zaundurchschnitt mit Mock organisiert. War dieser orchestrierte Propaganda-Coup notwendig? "Es war ein bisschen nachgemacht", meint Professor Balázs, "aber es ist gut, dass es geschehen ist. Weil es wahr war."