Zum Hauptinhalt springen

Das Zerschellen der Ideale an Realitäten

Von Thomas Seifert

Politik

Ian Buruma über orientierungslose Europäer, das Jahr 1945 und warum der Krieg eine Tatsache bleiben wird.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Rechtspopulisten treibt eine Ablehnung der urbanen Eliten an.

"Wiener Zeitung": Die Charta der Vereinten Nationen wurde am 26. Juni 1945 verabschiedet. Ein Beweis dafür, dass ein Teil der Menschheit immer versucht hat, eine friedliche Weltordnung herzustellen. Aber am Ende haben die Menschen sich dann immer als weniger weit entwickelt erwiesen als Schimpansen. Nämlich als streitsüchtig, bösartig und fies. Es ist nie gelungen, den Krieg vom Antlitz der Welt zu tilgen.Ian Buruma: Wir sind in jedem Fall schlimmer als Schimpansen. Die sind ja niedlich. Das Deprimierende: Alle Ideale zerschellen am Ende an den politischen Realitäten. Aber einige der Ideale überleben: In Europa sind einige Errungenschaften der Sozialdemokratie nicht mehr wegzudenken, wir halten auch an christlich-sozialen Werten fest. Und in den USA ist der "New Deal" von Franklin D. Roosevelt heute populärer denn je. Der Idealismus hinter den Vereinten Nationen und hinter der Idee einer Weltregierung war aber in der Realität niemals realistisch. Die Welt zerfiel nach dem Zweiten Weltkrieg sehr rasch in zwei Blöcke.

Warum ist das geschehen?

Die einfache und zungenfertige Antwort lautet: Interessenskonflikte. Diesen Konflikten entkommt man nicht, indem man für den Frieden betet oder kulturellen Austausch fördert und Ludwig van Beethovens "Ode an die Freude" anstimmt und "Alle Menschen werden Brüder" singt.

Sie schreiben in Ihrem jüngsten, sehr persönlichen Buch "1945 - Die Welt am Wendepunkt" darüber, dass man keine Lehren aus der Geschichte ziehen kann.

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Meist reimt sie sich auch nicht - ganz anders, als es im Bonmot des US-amerikanischen Schriftstellers Mark Twain heißt. Wir ziehen aus der Geschichte oft falsche Schlüsse. In meinem Buch spielt mein Vater eine große Rolle. Er wurde als Zwangsarbeiter aus den Niederlanden nach Deutschland verschleppt und hat das Kriegsende in Berlin erlebt. Diese Kriegsgeneration hat der heutigen Generation eines voraus: Ddas Wissen um die Brutalität und Grausamkeit des Krieges. Die amerikanischen Neocons, die den Irak-Krieg angezettelt haben, hatten schlicht keine Vorstellung davon, was Krieg bedeutet. Sie haben vom Krieg gesprochen, als ginge es um ein Computerspiel: Man marschiert im Irak ein. Stürzt Saddam Hussein. Mission accomplished - Mission erfolgreich beendet. Ich versuche im Buch zu zeigen, dass auch ein gerechtfertigter Krieg - und das war der Krieg gegen Hitlerdeutschland ohne den geringsten Zweifel - zu Situationen führen kann, die unschön sind. So ein Krieg kann zu mehr Gewalt führen, zu Bürgerkriegen, Racheakten. Meine Botschaft ist keine naiv pazifistische: Manche Kriege sind wohl notwendig, aber kein einziger Krieg ist ohne Kosten oder am Ende sauber.

Verstehen die Menschen heute nicht mehr, was auf dem Spiel steht?

Eine der Lehren, die wir aus der Geschichte ziehen können, lautet: Was auch immer geschieht, die Konsequenzen sind stets unvorhersehbar. In Europa haben wir eine Situation, in der die Westeuropäer es auch auf dem Kontinent den USA überlassen, für ihre Sicherheit zu sorgen. Die Amerikaner wiederum machen den Fehler, dass sie die Problemlösungskapazität ihrer Armee bei weitem überschätzen. Die Europäer sind hingegen noch so vom Krieg traumatisiert, dass sie so tun, als gäbe es ihn nicht.

Dabei hatten wir in Europa immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen, denken Sie etwa an den Balkan oder die Ukraine.

In beiden Fällen hat Europa hoffnungslos versagt. Im Fall der Ukraine ist die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zwar aktiv, vieles bleibt aber den Amerikanern überlassen. Am Balkan war Europa in den 1990er Jahren total hilflos. Am Ende war es US-Präsident Bill Clinton, der den Krieg mit Bombern beendete.

Es sieht so aus, als wäre Europa von der Venus, Amerikaner und Russen aber vom Mars.

Tja. Wo ich mit dem US-Politikberater Robert Kagan, der den Spruch "Amerikaner sind vom Mars, Europäer von der Venus" geprägt hat, nicht übereinstimme: Er sieht die Rolle der USA als Weltpolizist positiv, ich hingegen bin da eher skeptisch. Daraus folgt allerdings, dass Europa ernsthaft darüber nachdenken muss, selbst für die Sicherheit am Kontinent zu sorgen. Das kann man nicht mehr länger den USA überlassen.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass für viele Menschen das Jahr 1989 und nicht das Jahr 1945 das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert.

Erst im Jahr 1989 wurde ganz Europa befreit. Interessant sind aber auch die unbeabsichtigten Folgen von 1989: In dem Jahr wurde nicht nur der Sowjetkommunismus diskreditiert, sondern es war plötzlich jede Form von linkem Idealismus suspekt, so als würde das bloße Gerede von Solidarität zu einer Wiedererrichtung der Gulags führen. So kam auch die Sozialdemokratie in Misskredit, die neue Heilslehre war der Neoliberalismus. Das hat zu immer größerer sozialer Ungleichheit geführt, die nun den sozialen Zusammenhalt bedroht. Im Buch finden Sie übrigens eine wunderbare Parabel darüber, wie 1945 und 1989 zusammenhängen: Mein Vater hat das Ende des Zweiten Weltkriegs in Berlin erlebt. Seit dem Krieg hatte er eine Aversion gegen Feuerwerkskörper und Silvesterknallerei. Den Jahreswechsel 1989/90 haben wir im gerade erst wiedervereinigten Berlin erlebt. Das gigantische Feuerwerk hat ihn sicherlich tief in seinem Innersten beunruhigt. Am Ende ist ein Böller vor seinem Gesicht explodiert. Ein Symbol für das, was kommen sollte: Balkankrieg statt Ende der Geschichte, der Kollaps der Ordnung im Nahen Osten, Krieg in der Ukraine.

Und wo stehen wir heute? Die Feierlaune von 1989 ist verflogen, in Europa sind Rechtspopulisten, die die Apokalypse und den Untergang des Abendlandes beschwören, im Aufwind.

Ian Buruma: Europa muss selbst für Sicherheit am Kontinent sorgen.
© Christian Wind

Ich will keineswegs sagen, dass die FPÖ, Geert Wilders Partij voor de Vrijheid oder Marine Le Pens Front National so sind wie Adolf Hitlers NSDAP. Es gibt aber erschreckende Parallelen: Propaganda gegen die Qualitätspresse und Intellektuelle, gegen Künstler. Das waren auch im Dritten Reich die Hauptfeinde. Welches Ziel hat der norwegische rechtsextreme Terrorist Anders Breivik für seinen Massenmord gewählt? Ein sozialdemokratisches Jugendlager. Rhetorisch geht es zwar gegen Muslime, aber die Rechtspopulisten haben in den kulturellen Eliten den eigentlichen Feind ausgemacht. Die Eliten waren es, die nach Meinung der Rechtspopulisten die Zuwanderer ins Land gelotst haben, die Eliten waren es nach Meinung von Strache, Le Pen und Wilders, die dem Volk die europäische Integration aufgezwungen haben.

Aber an der Krisenstimmung in Europa sind nicht die Rechtspopulisten schuld.

Stimmt. Aber in Angstlust weidet sich niemand so gerne wie sie. Was jedenfalls stimmt, ist, dass die alte Ordnung völlig überkommen ist. Sie erodiert, ist dabei, zu zerfallen. Diese Nachkriegsordnung hat bisher den Frieden gesichert und dafür gesorgt, dass das Leben für die Menschen immer besser wird. Heute sind die Bürger - vor allem in Europa - orientierungslos. Das verleitet sie zur Überreaktion und zur Weltuntergangsstimmung. Hysterie ist aber ein schlechter Ratgeber. Wir sollten nicht in Panik verfallen. Wenn sie mich aber fragen ob ich eine große, neue Nachkriegs-Architektur sehe, dann lautet die Antwort: Nein.

Ian Buruma: Der 1951 in Den Haag, Niederlanden geborene Schriftsteller und Journalist beschäftigt sich in seinem jüngsten Buch ’45 - die Welt am Wendepunkt mit dem Kriegsende und war auf Einladung des Bruno Kreisky Forums für internationalen Dialog und des Wien Museums in Wien.