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Das erste Primärversorgungszentrum Österreichs läuft seit | Mai in Mariahilf. Der Betrieb läuft, Probleme gibt es trotzdem zur Genüge.
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Wien. Es ist ein trüber Mittwochvormittag, Mariahilfer Straße nahe der U-Bahn Station Zieglergasse. Der gedrungene Coffee-Fellows-Shop ist auch in den frühen Morgenstunden bereits gut gefüllt. Hier tummeln sich Studenten, ein Kaffee für den reibungslosen Start in den Tag.
Zu viel Konsum auf leeren Magen kann jedoch rasch zu Magenschmerzen führen. Nur ein paar Hausnummern stadteinwärts weiter, im "PHC Medizin Mariahilf", leidet Reinhard Wunderbaldinger an eben solchen Schmerzen: "Ich habe im Moment Probleme mit dem Magen - warum geht man zum Arzt? Weil i ma net den neuesten James Bond anschauen will", sagt der Mittsechziger mit einem verschmitzten Lächeln. Er sitzt nach vorne gebeugt im hellen, geräumigen Wartezimmer des ersten medizinischen Primärversorgungszentrums (auch: PHC) Wiens. Seit Mitte Mai läuft das Pilotprojekt. Herr Wunderbaldinger selbst ist schon in die Vorgängerordination gegangen: "Seit 1981 bin ich hier Stammgast. Ich komme nicht allzu oft her, nur wenn etwas ist." Er trägt einen schlichten schwarzen Rollkragenpullover, seine Gelassenheit kontrastiert fast mit dem hektischen Gewusel im Anmeldebereich. An die zwanzig Menschen warten hier seit der Öffnung um 8 Uhr auf das E-Card-Einstecken.
Es geht um die Entlastungder Ambulanzen
"Wir haben 50 Stunden in der Woche aufgesperrt, von Montag bis Freitag verpflichtend bis 19 Uhr. Seitdem sind die Patientenzahlen um 20 Prozent gestiegen. Die Patienten kommen, weil wir ein breiteres Leistungsspektrum in Kombination mit langen Öffnungszeiten anbieten", ist Wolfgang Mückstein erfreut, einer der drei Allgemeinmediziner des PHC-Zentrums. Er verweist auf eine WGKK-Studie, wonach 98 Prozent der Patienten mit dem Angebot sehr zufrieden seien. Täglich habe man zwischen 200 und 250 Rat- und Hilfesuchende. Seine beiden Arme hat er auf einen braunen Tisch gestützt, im Sozialraum des Zentrums herrscht Ruhe. Wie in den anderen fünf Behandlungsräumen befinden sich auch hier Spritzen, Tücher und Desinfektionsmittel. Die Einrichtung teilt sich mit den Ärzten ein Team diplomiertes Pflegepersonals sowie je eine Psychotherapeutin und eine Sozialarbeiterin. "Diese sind für Kurzinterventionen zuständig, es gibt jeweils drei Patienten-Konsultationen", skizziert der 41-jährige Mückstein den Arbeitsalltag. Der Wiener trat 2010 in die Ordination von Dr. Mayrhofer ein, 2013 komplettierte Dr. Lamel das heutige Allgemeinmediziner-Team.
Längere Öffnungszeiten auch an Tagesrandzeiten, größeres Leistungsspektrum, vermehrte interdisziplinäre Betreuung verschiedener Gesundheitsberufe, Begleitung chronisch erkrankter Patienten: Das sind die zentralen Schlagworte, mit deren Hilfe die Patientenbetreuung effizienter gestaltet werden soll. Zentrales Ziel dabei: die Entlastung der überfüllten Spitalsambulanzen.
Laut einer Vorarlberger Studie sind rund 50 bis 65 Prozent der Ambulanzfälle im niedergelassenen Bereich besser aufgehoben. So legte im Juni 2014 die Bundeszielsteuerungskommission, also Bund, Länder und Sozialversicherung, den Grundstein für die Stärkung der Primärversorgung. Laut dem dem damaligen Gesundheitsminister Alois Stöger (SPÖ, jetzt Verkehrsminister; Anm.) sollen Ende 2016 ein Prozent der österreichischen Bevölkerung in Primärversorgungszentren betreut werden. Von der ursprünglichen Einigkeit ist jedoch mittlerweile wenig zu spüren. Der Grund: das geplante PHC-Gesetz des Gesundheitsministeriums. Die Ärztekammer drohte gar mit einer Kündigung sämtlicher Krankenkassen-Gesamtverträge, sollte das Gesetz Wirklichkeit werden.
Ärztekammer gegen Gesundheitsministerium
Der Gesetzesentwurf sieht nämlich Einzelverträge zwischen PHC-Zentren und der Krankenkasse vor. Sämtliche medizinischen Leistungen und deren Honorierung würden darin geregelt. Der Gesamtvertrag, also der zwischen Ärztekammer und Sozialversicherungen ausgehandelte Kollektivvertrag für niedergelassene Kassenärzte, könnte ausgehebelt werden. Das jedenfalls ist dei Befürchtung der Österreichischen Ärztekammer: "Direktverhandlungen der Kassen mit einzelnen Ärzten wären ein höchst ungleiches Match und würden die Ärzte enorm schwächen. Das hätte auch negative Auswirkungen auf die von den Kassen bezahlten Leistungen und kann nicht im Interesse der Patienten sein", erläutert Ärztekammer-Vizepräsident Johannes Steinhart. Bisher wurden die Einzelverträge aufgrund eines starken Gesamtvertrages abgeschlossen, nach dem Gesetzesentwurf aber wird der "Einzelvertrag wesentlich wichtiger und enthält detaillierte Regelungen".
Eine weitere Sorge der Ärztekammer ist, dass sie nicht mehr in die Planung integriert ist: "Bei den Primärversorgungszentren soll die Planung nicht im Stellenplan, sondern im Regionale Strukturpläne Gesundheit (RSG) gemacht werden. Dort hat die Ärztekammer kein Veto", konstatiert Mückstein vom PHC Medizin Mariahilf.
Mittlerweile läuft der Vollbetrieb in der Praxis. Eine Pflegerin begrüßt im Pflegeraum eine Patientin mit einem breiten Grinsen. Nebenan im Warteraum blickt ein junges Mädchen mit grünem Rucksack aus dem Fenster. Ein Zimmer weiter versucht Mückstein, die rechtlichen Details aufzuschlüsseln: "Derzeit ist unser PHC-Zentrum nur im Konstrukt einer Gruppenpraxis möglich. Wir haben also einen Gruppenpraxen-Einzelvertrag mit der Kasse." In Wien gibt es zehn Gruppenpraxen für Allgemeinmedizin und rund 100 für Fachärzte.
Mückstein kennt natürlich die besondere Situation in der BUndeshauptstadt: Ein Grund für das jetzige PHC-Modell sei schlicht der schwache niedergelassene Bereich in Wien. Die offiziellen Ordinationszeiten von 300 Kassen-Allgemeinmedizinern seien 15 Stunden und weniger. Außerdem würden hier in den nächsten Jahren 70 Prozent der praktischen Vertragsärzte in Pension gehen. Der Anteil der Kassenärzte in Wien ist von 1668 im Jahr 2010 auf 1577 dieses Jahr gesunken. Davon sind 779 Allgemeinmediziner, die übrigen 798 sind Fachärzte. Österreichweit ordinieren insgesamt 3950 Hausärzte mit Kassenvertrag.
Der Österreichische Hausärzteverband zählt bundesweit 400 Mitglieder. Sein Sprecher, Wolfgang Geppert, ist ehemaliger Hausarzt aus Wilfersdorf im Bezirk Mistelbach. 32 Jahre arbeitete er in einer Einzelordination mit Hausapotheke. Und er macht einen durchaus beharrlichen Eindruck, wenn er etwas will. Dann klemmt er sich mit aller Kraft dahinter. Entsprechend emotional spricht Geppert über die Nachteile der PHC-Zentren: "Wir haben ein Problem damit, dass das PHC-Zentrum in ein bestehendes Hausarzt-System hineingepfropft wird. Die Kollegen in den Einzelpraxen werden als Auslauf-Modell hingestellt. Es könnte eindeutig eine Ablöse des Hausarztes stattfinden." (Siehe auch Interview Seite 19.)
Hausärzte gegenneue Zentren
Die Schieflage im österreichischen Gesundheitssystem beruhe tatsächlich auf den vollen Spitalsambulanzen, PHC-Zentren wären aber keine Lösung, istv Geppert überzeugt: "Nur ein Bruchteil der Patienten im AKH ist wirklich für die Notfallambulanzen. Die Spitalsambulanz kann die absolut tollste Versorgung in kürzester Zeit bringen. Das kann ein PHC nicht, die haben keinen Rund um die Uhr- und Wochenendbetrieb." Generell passen die Aussagen Geppers in das Bild, weiterhin am altbewährten Hausarzt festhalten zu wollen.
Geht es also bei der Diskussion letztlich um eine Entscheidung zwischen Tradition und Fortschritt? "Nein, sondern darum, Altbewährtes zu erhalten und Versorgungsangebote zu modernisieren und zu erweitern. Die Vertrauensärzte haben sich beispielsweise in unserem Gesundheitssystem bewährt. Deshalb können diese in modernen Primärversorgungseinrichtungen weiterhin aufgesucht werden", sagt Ingrid Reischl, die Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK). Im PHC Medizin Mariahilf zum Beispiel jeder der drei Ärzte 20 Stunden in der Woche: "Genau wie der Hausarzt in seiner Einzelordination. Wir sind auch Hausärzte. Also fünf Wochen auf Urlaub, zwei Wochen auf Fortbildung und auch krank", betont PHC-Mediziner Mückstein. Dass die Hausärzte "sich mit Händen und Füßen wehren", kann er nicht verstehen, schließlich handle es sich dabei doch um eine Entwicklung in Richtung der bestehenden Hausärzte. Wobei man in Wien schon aufpassen müsse, dass man nicht "40 PHCs macht und keine Einzelordinationen", so Mückstein.
Frau Fritz kommt bereits seit 1987 in die Praxis Mariahilf. Heute ist sie da wegen ihren Blutwerten. Sie ist inkompletter Querschnitter, ihr Rückenmark ist teilweise geschädigt: "Seit der Umstellung gibt es wesentlich umfangreichere Ordinationszeiten. Das ist natürlich angenehm für den Patienten", beantwortet sie die Frage auf die Veränderungen positiv und rückt dabei ihre rote Brille zurecht. Ihre Behandlung wird aufgrund der Honorarordnung des Gruppenpraxengesamtvertrages 2014 abgerechnet. Der Umsatz im PHC MedizinMariahilf besteht zu 99 Prozent aus Kassenzahlungen. Eine "optimale und maßgeschneiderte Honorierung" bräuchte aber eine zeitgemäße gesetzliche Regelung, so WGKK-Obfrau Reischl.
Jährlich 210.000 Euro an Förderungen
Laut Mückstein kämen die Patienten mit den gleichen Beschwerden wie im AKH: "Die gehen mit einem Schnupfen ins AKH. Wenn jemand zu uns mit so etwas kommt wirken wir somit spitalsentlastend." Auch für Notfälle, besonders an den Tagesrandzeiten, Schnelltests, Blutabnahmen, Impfungen sowie EKG-Behandlungen sei die Praxis zuständig. "Die Stadt Wien und die Krankenkassa haben zusätzliche Leistungen definiert. Leistumgen, die ein Hausarzt nicht anbieten muss, aber teilweise kann. Etwa längere Öffnungszeiten, erweitertes Ordinationspersonal und Fortbildungsverpflichtungen. Dafür bekommen wir 210.000 Euro jährlich, zwei Drittel davon gehen ins Personal. Es ist ein Novum, dass das Land im niedergelassenen Bereich zahlt, der eigentlich der Sozialversicherung gehört, "so Mückstein.
Der ehemalige Hausarzt Geppert sieht darin nichts anderes als eine ungesetzliche Förderung, eine Wettbewerbsverzerrung. Und er zieht ein Rechtsgutachten des Medizinrechtlers Alfred Radner hervor: "Das Geld gibt es im Gesamtvertrag nicht, an den die Kollegen ja noch gebunden sind. Sie werden dafür nirgends eine Möglichkeit finden, dass es gedeckt ist, auch nicht in Form eines Pilotprojektes", argumentiert der Vertreter der Hausärzte. Der Mann mit den grauen Haaren und dem blauen Hemd verweist auf Mehrkosten des PHC-Zentrums, die von einem Steuerberater berechnet wurden: Allein das zusätzliche diplomierte Pflegepersonal verursache 10 Prozent Mehrkosten, die größte Position seien aber die längeren Öffnungszeiten. In Summe betrage die Steigerung der Kosten 50 Prozent. Mückstein wehrt sich gegen die se Vorwürfe: "Es hat gegen diese Konstruktion Anzeigen gegeben - es ist nichts herausgekommen. Es gibt im ASVG unter dem § 3 die Möglichkeit, dass bei Einzelverträgen im Einvernehmen zwischen der Sozialversicherung und der Ärztekammer zusätzliche Leistungen ausgemacht werden. Nach der Gesundheitsreform soll dort Geld hinfließen, wenn einer vom anderen Bereich profitiert, also der niedergelassene- und Spitalssektor."
Im Gegensatz zu den vom Ministerium geplanten PHC-Zentren, hat die Ärztekammer das Projekt Mariahilf von Anfang an unterstützt. Dieses wurde anhand des Stellenplanes sowie aus einer gewachsenen Gruppenpraxen-Struktur heraus geschaffen. Bei den vom Gesetz vorgesehenen Zentren fürchtet man, dass der traditionelle niedergelassene Bereich abgeschafft wird, ebenso der verpflichtende Arztkontakt. Vor staatlicher Einflussnahme wird gewarnt: Wird ein Primärversorgungszentrum ausgeschrieben, können zuerst die umliegenden Ärzte Angebote legen, passiert dies nicht, haben auch institutionelle Firmen und Investoren die Chance dazu. "Bei einem schlechten Gesetz könnten PHC-Zentren sehr einfach von Ketten oder Großkonzernen übernommen werden könnten, die primär profitorientiert vorgehen. Das wäre das Ende der sozialen Medizin", sagt Ärztekammer-Vize Steinhart.
Es gelte den niedergelassenen Bereich zu stärken: Also ein Nebeneinander von niedergelassenen Ärzten in der bewährten Form, von mehr Gruppenpraxen und erweiterten Gruppenpraxen. Jedenfalls werde man dem PHC-Gesetz bei einer Aushöhlung des Gesamtvertrages vehement entgegen treten. Aus dem Gesundheitsministerium heißt es dazu lediglich, dass die Verhandlungen derzeit zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherung laufen. Die Ärztekammer komme in einem nächsten Schritt dazu. In "ein, zwei Punkten" könnten sich die Verhandlungen noch spießen.
Für den Ruf nach vermehrtem Arbeiten im Team wurde der Hausärzte-Verband jahrelang gescholten, bemängelt Geppert. Er ist sichtlich frustriert: "Wir wünschen uns Chancengleichheit für die Hausärzte, also eine Erweiterung des Leistungsspektrums und des Personals." Letztlich werde es in Österreich aber eine Rückbesinnung auf den Hausarzt geben, davon ist er überzeugt. "Ich glaube, dass es ergänzend zum derzeitigen Hausarzt größere Gruppenpraxen und PHC-Zentren geben sollte. Ob das jetzt 30 oder 50 sind - mehr wird wahrscheinlich gar nicht notwendig sein", zeichnet Mückstein ein anderes Zukunftsbild. Ein zweites Primärversorgungszentrum in der Nähe des SMZ Ost ist bis Ende Februar ausgeschrieben.