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Dass so ein Stadtkind keine Heimat hat

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Die Hertie-Stiftung hat die Bewohner der deutschen Hauptstadt nach ihrer Lebenslage und ihrem Lebensgefühl befragt. Ergebnis: Das heterogene Berlin hat hohe Bindungskraft.


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Berlin hat in den letzten zweihundert Jahren mehrfach Gesicht und Funktion radikal verändert. In wenigen Jahrzehnten von der überschaubaren Garnisonsstadt hochgespült zur kaiserlich-preußischen Prunkfassade und Industriemetropole, Hauptstadt der Vergnügungsindustrie und der Exzentrik in den "roaring twenties", überhebliches "Germania" in der Nazizeit, dem Erdboden gleichgemacht in der Stunde Null, notdürftig aufs hässlichste zusammengeflickt in den 50ern, ausgehungert, geteilt, zerrissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von der lang ersehnten Wiedervereinigung überrascht und überfordert - keine andere Stadt ist von der Geschichte so arg gebeutelt worden wie Berlin.

Und heute? "Arm, aber sexy" - bringt der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit die Lage der Stadt auf den kürzesten Nenner. Und tatsächlich: Nirgendwo anders ist der Schuldenberg so hoch, nirgendwo anders leben so viele Menschen von staatlichen Zuwendungen (nur 48 Prozent können von ihrem Job leben), nirgendwo ist die Lage der Schulen so prekär.. .

Jeder Zweite, der hier lebt, ist nicht hier geboren. Und dennoch: Die Wohnzufriedenheit, der Stolz auf die eigene Stadt, der Wohlfühlfaktor ist auch nirgendwo höher als hier. Das Phänomen kennen wir Wiener nur allzu gut: Die einzigen, die über Wien schimpfen dürfen, sind wir selbst - wehe dem Fremdling, der dies wagt!

Zu diesen Erkenntnissen kommt eine Studie der gemeinnützigen Hertie-Stiftung, in der 2000 Berliner repräsentativ und zehn Migranten in Tiefeninterviews intensiv befragt wurden und die jetzt in Buchform vorliegt ("Hertie-Berlin-Studie"). Ihre Leitfrage: Kann dieses vielgestaltige, multikulturelle Berlin ohne ein gesellschaftliches Gravitationszentrum die Integration leisten, die erforderlich ist, um die zunehmende Heterogenität seiner Bevölkerung zu bündeln und ein Auseinanderfallen der Stadtgemeinschaft zu verhindern?

Und hier sind die wichtigsten Ergebnisse:

* Die "Mauer in den Köpfen" existiert zwar noch, aber sowohl die Lebensverhältnisse als auch die Wertvorstellungen haben sich objektiv in Ost und West stark angeglichen. Es entsteht das Paradox, dass sich die Einheit rascher vollzieht als die Berliner selbst wahrhaben wollen.

* Berlin ist tolerant und ausländerfreundlich. Bis auf wenige Häuserblöcke, in denen Immigranten sich ghettoisierten, klappt das Zusammenleben zwischen Angestammten und Zuwanderern hervorragend. Ja, in solchen Mischvierteln überwiegt das positive Lebensgefühl.

* Die Berliner gehen hart mit ihrer Stadt ins Gericht, beklagen Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität .. . und sind doch die größten Fans ihrer Stadt. So bietet Berlin seinen Bewohnern zahlreiche Nischen und Netzwerke, Szenen und Kieze, die für ein Gefühl von nachbarschaftlicher Nähe sorgen, ohne eine dörfliche Enge zu erzeugen. Berlin bietet das Lokale und Internationale zugleich. Die Berliner bezeichnen ihre Stadt als: "International und weltoffen", "lebensfreudig und selbstbewusst", trotzdem "gemütlich" und "überschaubar". 89 Prozent der Berliner leben gern in Berlin.

Kurz: Die meisten Berliner haben eine hohe emotionale Bindung an ihre Stadt - in Ost- und West-Berlin sowie bei Einheimischen und Zugewanderten gleichermaßen. Offenbar gelingt es Berlin trotz zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit und der Vielfalt der sozialen Lebenswelten, für seine Einwohner ein identitätsstiftendes Gemeinwesen zu sein. Frei - tolerant - kreativ.