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Vor 65 Jahren trat die Europäische Menschenrechtskonvention in Kraft. Ein Meilenstein des internationalen Rechts.
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Sie gelten für alle als Menschen Geborene, unabhängig von Beruf, Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Kultur, Religion, Staat, Stand, Sprache und Weltanschauung: die Menschenrechte. Sie sind angesichts des Aufkommens autokratischer und repressiver Tendenzen sowie der Debatte um die Krise der Demokratie zunehmend gefährdet. Grund genug, sich der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), kurz "Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten", zu erinnern. Sie wurde am 4. November 1950 in Rom von Belgien, Dänemark, der Bundesrepublik, Frankreich, Irland, Island, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Türkei und dem Vereinigten Königreich unterzeichnet.
Historische Wurzeln
Weitere Staaten folgten. Sie trat nach zwei Drittel der innerstaatlich erfolgten Ratifizierungen - völkerrechtlich verbindlich - nur in der englischen und französischen Fassung am 3. September 1953 in Kraft. Die EMRK sollte ein Mindestmaß an Menschenrechten ermöglichen. Alle Mitglieder des am 5. Mai 1949 begründeten Europarats in Straßburg - ohne die Staaten hinter dem Eisernen Vorhang - hatten sie unterzeichnet und ihr innerstaatliche Gültigkeit zugesichert, was jedoch nicht immer geschah, wie die Türkei zeigt, die unter Beobachtung steht.

Menschenrechte sind Teil einer geistesgeschichtlichen Tradition des Westens, beginnend mit der Magna Charta 1215, der Petition of Right 1628, der Habeus Corpus-Akte 1679, der Virginia Declaration of Rights 1776 und der französischen Verfassung 1789. Sie fanden Aufnahme in liberale Verfassungen des 19. Jahrhunderts. Von den Menschenrechten abgeleitet wurden die subjektiv wie öffentlich geltenden Grundrechte. Vorausgesetzt und eng damit verbunden war die moderne Rechtsvorstellung von der Unantastbarkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenwürde. Sie setzt die unbedingte Anerkennung des Einzelnen als Träger gleicher Freiheiten voraus. Durch Staaten wurden Menschenrechte jedoch nicht geschaffen, sondern nur anerkannt und ihre Einhaltung verbrieft.
Das klassische Völkerrecht kannte für Bürger/innen weder Rechte noch Pflichten. Aufnahme fanden sie darin erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Individuen waren zunächst allein auf den diplomatischen Schutz durch ihren Herkunftsstaat angewiesen, der ihre Rechte gegen Drittstaaten vertrat.
Der Mensch war auch noch lange kein prinzipieller Rechtsträger im internationalen Bereich, aber immerhin schon Begünstigter von Völkerrechtsnormen. Die Hebung der Menschenrechte auf die internationale Ebene führte zu einem Wandel vom Recht der souveränen Staaten zum Recht der Menschheit. Die ersten Betroffenen waren jedoch nicht Einzelne, sondern Gruppen, d.h. Flüchtlinge, was in der entsprechenden Genfer UNO-Konvention 1951 Ausdruck fand.
Globaler Vorlauf
Die UNO hatte nach 1945 sowohl Arbeiten des Völkerbunds auf Teilgebieten des Menschenrechtsschutzes fortgesetzt, als auch neue Anstöße gegeben. Ein Meilenstein war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte seitens der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948 - nur eine Empfehlung ohne Rechtsverbindlichkeit, die für die EMRK jedoch inspirierend wirkte und zu mehr motivierte.
Zuvor war an einer bindenden UNO-Konvention gearbeitet worden. Schon 1947 wurde eine Menschenrechtskommission des Wirtschafts- und Sozialrats der UNO (ECOSOC) aktiv, die Informationen über Menschenrechtsverletzungen aus aller Welt sammelte, zwar nicht eingreifen, aber Berichte erstatten konnte. Erstmals nach dem Krieg forderte der Haager Europakongress (7.-10. Mai 1948) eine Menschenrechtscharta für Europa. Die Resolution des politischen Ausschusses nahm darauf mehrfach Bezug, so auf das Recht zur politischen Opposition sowie Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Ein Internationaler Rechtsausschuss unter Vorsitz des früheren französischen JustizministersPierre-Henri Teitgen und der Berichterstattung des britischen Juristen und Konservativen Sir David Maxwell Fyfe unterbreitete dem Ministerkomitee des Europarats am 12. Juni 1949 einen Entwurf. Im Zuge heftiger Diskussionen und eines umfangreichen Verfahrens unter Einbeziehung von Ausschüssen und der Beratenden Versammlung des Europarates wurden mit Akzeptanz des Bildungs-, Eigentums- und Wahlrechts Fortschritte erzielt. Ein Sachverständigenausschuss arbeitete ein Zusatzprotokoll aus, das die noch kontroversiellen und aus der Konvention ausgesparten Fragen der Eigentumsgarantie, des Elternrechts und der politischen Bürgerrechte regeln sollte.
Kompetenzen
Für die in der EMRK verankerten klassischen Freiheitsrechte wurde ein Rechtsschutzsystem geschaffen, das aus der Europäischen Menschenrechtskommission (EMK), dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und dem Ministerkomitee des Europarats bestand. Durch Ratifizierung der EMRK unterwarf sich jeder Staat der Befugnis der EMK, Beschwerden zu prüfen, die ein anderer Staat gegen ihn vorbrachte.
EMK- und EGMR-Kompetenzen für Individualbeschwerden von Bürgern wegen Verletzungen der EMRK waren zunächst davon abhängig, ob der inkriminierte Staat die Jurisdiktion der genannten Organe anerkannte. Zwischen ihnen wurde ein Instanzenweg geschaffen, wobei sich der EGMR eines Streitfalls nur annahm, wenn die EMK die Beschwerde für zulässig hielt und ein Ausgleich gescheitert war. Ein Gerichtsspruch war für alle Parteien verbindlich. Im Fall einer Konventionsverletzung sollte der EGMR Entschädigungen zusprechen und die inkriminierte Handlung für nichtig erklären. Über die Einhaltung wachte das Ministerkomitee, das beim EGMR Gutachten zur Auslegung der Konvention und ihrer Zusatzprotokolle beantragen konnte.
Die Themenpalette der EMRK wurde erweitert: durch die Europäische Sozialcharta 1961 (in Kraft 1965), die Anti-Folter-Konvention von 1987 (in Kraft 1989) und die Minderheiten-Konvention von 1995 (in Kraft 1998). Am 6. November 1990 wurde der Zugang zur EMRK auch für Einzelbürger, NGOs und Personenvereinigungen geregelt, die sich an die EMK gewandt hatten, vor allem das Recht, vor dem EGMR als Partei aufzutreten. Die EMK durfte zuvor Beschwerden nur akzeptieren, wenn der staatliche Rechtsweg ausgeschöpft war.
Nach Ende des Kalten Kriegs in Europa erweiterte die EMRK ihren räumlichen Gültigkeitsbereich durch neue Mitglieder des Europarats aus der früheren UdSSR und ihren vormaligen Verbündeten. 1994 durfte jeder EU-Bürger sein Anliegen selbstständig beim EGMR deponieren. Die Verfahren wurden beschleunigt und vereinfacht.
Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR gilt das Prinzip praktischer Anwendbarkeit der EMRK. Seit 1998 ist es jedem einzelnen Menschen (jenseits der EU) möglich, sich bei Verletzung seiner EMRK-Rechte unmittelbar mit einer Individualbeschwerde an den EGMR zu wenden. Bis dato war dieses Recht an die Anerkennung der Jurisdiktion der EMK und des EGMR gebunden. Darüberhinaus wurde es auch Mitgliedstaaten wegen einer EMRK-Verletzung möglich, im Wege einer Staatenbeschwerde gegen ein anderes Mitglied den EGMR anzurufen. Derartige Verfahren sind im Vergleich zu anderen internationalen Regelungen einzigartig. Der europäische Menschenrechtsschutz kann - bei allen noch bestehenden Defiziten - als weltweit am weitestgehend entwickelt angesehen werden.
Folgeabkommen
Im UNO-Rahmen gab es parallel dazu eine Reihe weiterer Vereinbarungen: die Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord 1948, zur Unterdrückung von Menschenhandel und Prostitution 1949, zur Rechtsstellung der Staatenlosen 1954, zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 1966, zur Nichtverjährung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit 1968, gegen Folter 1984, zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung der Frau 1979 und zu Rechten des Kindes 1989.
Zwei Verträge erweiterten zudem die UN-Menschenrechtserklärung: der Zivilpakt über bürgerliche und politische Rechte sowie der Sozialpakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, etwa auf Arbeit und Gesundheit (beide in Kraft 1976). Ihre allgemeinen Formulierungen blieben hinter den konkreten Verfassungen freiheitlicher und demokratischer Rechtsstaaten zurück.
Neben den globalen Abkommen unterzeichneten die Mitglieder der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) 1969 die Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK, in Kraft 1978; als Folgedokument der EMRK zu verstehen), und zwar mit einer Kommission und einem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in San José in Costa Rica. Die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) hat 1981 die Afrikanische Charta der Rechte der Menschen und Völker verabschiedet, die Banjul-Charta (in Kraft 1986; benannt nach dem Konferenzort, der Hauptstadt Gambias) mit einer Kommission, aber ohne Gerichtshof. Die Menschenrechtslage blieb in dieser Weltre-gion nicht zuletzt deshalb prekär.
In der Schlussakte von Helsinki, der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 1. August 1975, erkannten die 33 Teilnehmerstaaten Europas sowie die UdSSR plus Kanada und die USA die universelle Bedeutung der Grund- und Menschenrechte für Frieden, Gerechtigkeit und Wohlergehen an. Dadurch wurde über die EMRK hinaus und über weltanschauliche Systemgrenzen hinweg ein System politischer Verpflichtungen im Menschenrechtsbereich angepeilt. Die Grundsätze des Korb III ("Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen") schufen Legitimation für Bürgerrechts- und Menschenrechtsgruppen in Staaten hinter dem Eisernen Vorhang. Die Charta von Paris (1990) bot weitere Grundlagen für einen einheitlichen Raum von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als "menschliche Dimension", was fortan im Rahmen der OSZE realisiert werden sollte.
Die EU als Rechtspersönlichkeit ist formell noch nicht der EMRK beigetreten, jedoch laut Unionsvertrag zum Abschluss einer Vereinbarung mit der EMRK verpflichtet, deren Rechte bereits als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind. Die EU kennt übrigens - im Unterschied zum Europarat (1999) - noch keinen Kommissar für Menschenrechte.
Nach 1968 in Teheran berief die UNO zum zweiten Mal eine Weltkonferenz über Menschenrechte ein, die vom 14. bis 25. Juni 1993 in Wien tagte, und an der 171 Staatenvertreter sowie 813 NGOs teilnahmen. Die UN-Generalversammlung formulierte vorab fünf Ziele: Überprüfung der Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte seit Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung und Benennung der Hindernisse für den weiteren Fortschritt; Erörterung des Zusammenhangs zwischen Entwicklung und weltweiter Realisierung der Menschenrechte; Suche nach Mitteln und Wegen für eine verbesserte Durchsetzung bestehender menschenrechtlicher Instrumente und Normen; Bewertung der Effektivität der Arbeitsmethoden der UNO im Bereich der Menschenrechte sowie Ausarbeitung von Empfehlungen für eine erhöhte Wirksamkeit der UN-Aktivitäten. Als vorausgegangene Regionalkonferenzen - in Tunis für Afrika, Bangkok für Asien und San José für Lateinamerika - unter Berücksichtigung historischer, kultureller wie religiöser Traditionen für verschiedene Menschenrechtsverständnisse Geltung beanspruchten, war man herausgefordert.
Wiener Deklaration
Die am 25. Juni 1993 verabschiedete "Wiener Deklaration" betonte kompromissbemüht die Universalität und wechselseitige Verbundenheit aller Menschenrechte, abgeleitet aus dem dem Menschen innewohnenden Wert und seiner Würde. Trotz der Verschiedenheiten in Geschichte, Gesellschaft, Kultur und Religion der Staaten wurde deren Pflicht betont, alle Grundfreiheiten und Menschenrechte zu fördern und zu schützen. Erstmals wurde Demokratie als Grundvoraussetzung dafür genannt - und am 20. Dezember 1993 zum ersten Mal auch ein Hoher Kommissar eingesetzt. Vom UN-Generalsekretär für vier Jahre ernannt, sollte er bei schwerwiegenden Menschenrechtserletzungen auftreten und präventiven Menschenrechtsschutz fördern. Das Amt war jedoch ohne Exekutivbefugnisse und somit auf politische Signalwirkung angewiesen.
Die Sensibilisierung der öffentlichen Meinung für Menschenrechtsfragen hat zu Erweiterungsvorschlägen für bestehende Vereinbarungen beigetragen, etwa in Fragen der Gentechnologie, Gleichstellung (LGBTQ), Entwicklung, des Friedens und Rassismus sowie einer sauberen Umwelt.
Auch nach 1993 blieben ideologisch-kulturelle Auffassungsunterschiede über Menschenrechtsverständnisse bestehen, die sich einem rechtsverbindlichen weltweiten Schutz entgegenstellen. Wie relevant die Debatte ist, zeigen Berichte von Amnesty International über Menschenrechtsverletzungen in autokratischen und diktatorischen Herrschaftssystemen oder nach Krisen und Kriegen.
Menschenrechtsschutz kann nicht allein durch internationale und völkerrechtliche Vereinbarungen gesichert werden, da sie von staatlichen Rechtssystemen und deren gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig sind.
Es gilt: Je demokratischer ein System ist, desto besser stehen die Chancen für eine ausgeprägte Grund- und Menschenrechtskultur. Je größer hingegen Sozialkonflikte und Ungleichheitsverhältnisse sind, umso schwieriger sind Menschenrechte durchzusetzen. Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus erinnern daran, dass Menschenrechte von einer funktionierenden demokratischen Kontrolle der politischen Macht abhängen, doch selbst in rechtsstaatlichen Demokratien sind Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit nicht immer das Gleiche.
Lage in Österreich
Die Zweite Republik trat erst 1956 dem Europarat bei, ratifizierte die EMRK am 13. Dezember 1957 und setzte sie am 3. September 1958 in Kraft. Ihre Stellung im Verhältnis zum staatlichen Recht war umstritten, erst 1964 erhielt sie Verfassungsrang. Der Verfassungsgerichtshof hat sie seither, wie auch die Grundrechte im Staatsgrundgesetz aus der Monarchie, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867 anzuwenden. Das Bundes-Verfassungsgesetz weist bis heute keinen eigenen Grundrechtskatalog auf. So ist die EMRK mit besagtem Staatsgrundgesetz und der Charta der Grundrechte der EU (als Anhang zum Lissabon-Vertrag in Kraft 2009) Hauptbestandteil österreichischer Grundrechtsgesetzgebung - Europa sei Dank.
Der unlängst verstorbene Wiener Historiker Gerhard Jagschitz, ein scharfer Beobachter des Zeitgeschehens, hat noch Anfang des Jahres öffentlich ein mangelndes demokratisches Bewusstsein im Lande kritisiert. Der antifaschistische Grundkonsens sei nach 1945 ein Elitenprojekt gewesen. Österreich habe keine entwickelte Demokratie, zumal autoritäre, monarchistische und nostalgische Elemente "überall reinspielen". Er beklagte einen Mangel an unabhängigen "Demokratiewächtern". Es gebe zu viele versteckte Auto-ritarismen und Repressionen im Berufsleben, in der Schule, an der Universität und in der Politik.
Gemäß EMRK sind diese - so der Autor dieses Beitrags - konsequent zu beanstanden, zumal für jedes auch demokratisch-rechtsstaatlich verfasste System die Wahrung der Menschenrechte ein Dauerauftrag für Staat, Gesellschaft und Individuum bleibt.
Michael Gehler, geboren 1962 in Innsbruck, leitet das Institut für Geschichte an der Universität Hildesheim und ist Jean-Monnet-Professor für vergleichende Geschichte Europas und der europäischen Integration.