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Erdbeben erschüttern Mittelitalien. Die Bewohner fürchten, nie wieder in ihr Zuhause zurückkehren zu können.
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Rom. Bleiben oder gehen, das ist hier die Frage. Die Erde bebt weiter in Mittelitalien. Am Dienstagmorgen wurde der vorerst letzte schwere Erdstoß mit einer Stärke 4,8 auf der Richterskala in der Region Marken gemessen. Erneut stürzten Gebäude in den bereits vom Erdbeben am vergangenen Sonntag zerstörten Gemeinden ein. Und trotz der lebensgefährlichen Umstände treibt die Bewohner von Norcia, Ussita oder Castelsantangelo sul Nera die Frage um, ob sie ihrer Heimat den Rücken kehren oder doch bleiben sollen. Die Angst treibt sie um, ein Abschied könnte eine Entscheidung für Jahre, wenn nicht für immer sein.
80 Prozent des Baubestandes in den vom Erdbeben betroffenen Gegenden in Umbrien, den Marken, Latium und den Abruzzen ist beschädigt. Denn längst sind die drei verschiedenen großen Erdbeben in den vergangenen Wochen in Mittelitalien zu einer einzigen großen Katastrophe zusammen gewachsen. Am 24. August zerstörte ein Beben das Dorf Amatrice und forderte knapp 300 Todesopfer, am vergangenen Mittwoch stürzten nach einem schweren Erdstoß erneut hunderte Gebäude in der Erdbebenregion ein. Schließlich folgte am vergangenen Sonntag der bisher schwerste Erdstoß mit einer Stärke von 6,5 auf der Richterskala. Geologen können weitere schwere Beben nicht ausschließen.
Der Boden hat sich um bis zu einem Meter abgesenkt
Auf 130 Quadratkilometern ist der Boden in Mittelitalien deformiert. In einigen Gegenden ist die Erde um bis zu einen Meter abgesunken, haben Satellitenbilder ergeben. Rund 40.000 Menschen sind obdachlos geworden. Am Sonntag wurden dutzende Menschen zwar verletzt, Tote gab es nicht. Denn viele Menschen waren nach den Erdbeben der vergangenen Monate nicht mehr in ihre Häuser zurückgekehrt und schliefen im Auto. Zudem überraschten die Erdstöße der vergangenen Tage die Menschen nicht im Schlaf wie am 24. August in Amatrice und Umgebung.
Wie es heißt, hätten auch die Renovierungsarbeiten nach dem Erdbeben in Umbrien 1997 eine Katastrophe verhindert. Für das Städtchen Norcia, wo mehrere Kirchen und Teile der mittelalterlichen Stadtmauer einstürzten, mag das wohl gelten. Für Castelluccio oder Castelsantangelo sul Nera, wo dutzende Häuser zusammenbrachen, wohl kaum. "Es ist ein Kreuz, das hört nie auf", sagte der Bürgermeister von Ussita, Marco Rinaldi, am Dienstag nach dem bis Redaktionsschluss letzten spürbaren Erdstoß. "Unser Dorf ist wie ausgelöscht", sagte Mauro Falcucci, Bürgermeister von Castelsantangelo sul Nera, eine Gemeinde, die inzwischen komplett verwaist ist. Nachts werden in der Bergregion Minustemperaturen gemessen.
"Wenn wir gehen,stirbt die Gegend aus"
Am Sonntag hätten die letzte Familie sowie der letzte Hotelier ihre Wohnungen verlassen. Nur fünf Bauern, die ihre Tiere nicht alleine zurücklassen wollten, seien noch im Ort. "Wir gehen nicht", sagte Emanuela Novelli, eine Bewohnerin der Kleinstadt Norcia. Auf Anraten der Behörden hat etwa die Hälfte der Bewohner der 5000-Einwohner-Gemeinde den Ort verlassen und das Angebot eines Transfers in Ferienanlagen an der Adriaküste oder am Trasimener See angenommen. Viele Bürger wehren sich aber gegen die "Deportation", weil sie fürchten, jahrelang nicht mehr in ihr Zuhause zurückzukommen. "Wenn wir jetzt gehen, stirbt die Gegend", heißt es.
Die Furcht bezieht sich auch auf die oft umständlichen Reaktionen der italienischen Bürokratie. Ministerpräsident Matteo Renzi hatte angekündigt, in etwa einem halben Jahr sollten Holzhäuser für die Bewohner geliefert werden. Ab Weihnachten würden Wohncontainer zur Verfügung gestellt. Wer auch in einer ersten Phase seine Heimat nicht verlassen wolle, der bekäme ein Zelt. Renzi, der am Dienstagabend das Erdbebengebiet besuchte, versprach zudem den kompletten Wiederaufbau der zerstörten Gemeinden. "Das Erdbeben hat das Herz Italiens verletzt, die Gemeinden haben eine Seele und diese Seele wollen wir nicht verlieren", sagte der Premier.