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Dauerhafte Moderne

Von Bernhard Widder

Reflexionen

Johann Georg Gsteu (1927-2013) ist ein markanter Vertreter der österreichischen Baukunst. Drei seiner Bauten stellen die Eigenart dieses Architekten besonders gut unter Beweis.


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Die kargen "Bildhauerunterkünfte am Steinbruch" in St. Margarethen im Burgenland, 1968 erbaut, gehören zu Gsteus ambitioniertesten Entwürfen. 
© Foto: Widder

Als die Nachricht vom Tod des Architekten Johann Georg Gsteu, der mit 87 Jahren am 20. August gestorben ist, verbreitet wurde, ergab sich folgende Idee, die zu einer längeren Beschäftigung mit dem Werk dieses Baukünstlers führen sollte. Ich dachte daran, einige der bedeutenden Bauwerke Gsteus in Wien und in der weiteren Umgebung aufzusuchen, zu fotografieren und zu beschreiben.

Nachprüfung

Die drei Bauwerke, die mich interessieren, stammen aus den 1960er und 1970er Jahren: Ein Wohnbau der Gemeinde im Norden von Wien, die Anlage einer Kirche mit Pfarrzentrum im Westen von Wien, sowie ein niedriges Gebäude am Westhang des Ruster Hügellands im nördlichen Burgenland, das als "Bildhauerhaus" bezeichnet wird.

Von eigenen Besuchen kannte ich diese Bauwerke von früher, doch stellte sich die Frage, in welchem Zustand die drei modernen Anlagen sein würden, von denen die älteste aus dem Jahr 1965 stammt, also bald fünfzig Jahre alt wird. Meine Besuche in den vergangenen Wochen zeigten mir, dass diese Werke sich in einem guten Zustand befinden, zum Teil in der letzten Zeit mit Aufwand renoviert worden waren. So wirken sie jetzt nahezu als Neubauten, und damit stellt sich eine weitere Frage: Welchen Eindruck machen diese Bauten, die zu den besonderen Beispielen der damaligen Moderne zählen, heute? Lassen sie sich aus ihrem historischen Kontext verstehen, aus einer Zeit vor fünfunddreißig und mehr Jahren? Oder wirken sie mit wachsendem Alter eindrucksvoller?

Radikal und puristisch

Johann Georg Gsteu, geboren 1927 in Tirol, zählte zu der Gruppe von Architekten, die in der Nachkriegszeit an der Akademie der Bildenden Künste am Wiener Schillerplatz studierten. Die ersten Aufträge erfolgten bereits in den 1950er Jahren, so der damals als radikal und puristisch betrachtete Umbau der Kirche in Wien-Hetzendorf, den Gsteu gemeinsam mit dem etwas jüngeren Friedrich Achleitner geplant hatte. Viele seiner früheren Studienkollegen erhielten später Professuren an österreichischen und deutschen Fakultäten für Architektur, Gsteu selbst lehrte ab 1982 als Professor im hessischen Kassel.

Eine auffallende Besonderheit seiner Arbeiten ist die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit industriell vorgefertigten Bauelementen, die Gsteu in verschiedenen Phasen seiner Tätigkeit als Architekt verwendete, wobei der eigentliche Zweck dieser präfabrizierten Elemente von Gsteu umgedacht wurde, was zu einem ganz anderen Einsatz führte. Beim Bildhauerhaus bei St. Margarethen verwendete Gsteu etwa als Dachelement eine Form aus Stahlbeton, die für den Brückenbau entwickelt worden war. In einer nächsten Phase beschäftigten ihn vorgefertigte Kanalprofile aus Stahlbeton, zum Teil mit Durchmessern von drei Metern, die Gsteu zu markanten, aus der Fassade hervortretenden Fensterelementen oder Erkern umdeutete.

Wiener Bauten

Späte Bauten Gsteus werden vielen Wienern bekannt sein, vor allem Radfahrern oder Benützern der U-Bahn-Linie U6, ohne dass sie damit gleich den Namen des Architekten verbinden. Ein später Auftrag betraf die Gestaltung einiger südlicher Stationen der U6, die Gsteu mit der ihm eigenen Sturheit (eventuell ein tirolerischer Aspekt seines Naturells) mit einem verformbaren Profilblech verkleidete, das ihn auch bei anderen Bauaufgaben beschäftigte. Etwa bei der Gestaltung der Fassade eines Kindergartens in der Nähe der Brünnerstraße (Wien, 21. Bezirk) oder beim sogenannten "Nordsteg", der parallel zur Nordbrücke als Fußgänger- und Radfahrer-Verbindung zwischen dem 20. und dem 21. Bezirk über Donau, Donauinsel und Neue Donau führt. Die Elemente, die Gsteu für diese Brückenkonstruktionen entworfen hat, sind in leuchtendem Gelb gehalten, umfassen ein weiteres Mal die Formbleche sowie die Beleuchtungsmasten entlang der Strecke.

Der Josef-Bohmann-Hof in Wien-Leopoldau (21. Bezirk), erbaut 1978.
© Foto: Widder

Im Folgenden wird versucht, die eingangs erwähnten drei Bauwerke darzustellen. Ein Besuch von architektonischen Werken ist deshalb so aufschlussreich, weil es sich um eine Auseinandersetzung mit "gestaltetem Raum" handelt, der nur körperlich erfahrbar ist. Jede Abbildung, sei es Zeichnung, Fotografie oder Film, ist eine bereits gefilterte, reduzierte Darstellung von räumlichen Situationen.

Wohnbau in Leopoldau

Leopoldau ist eines der historischen Anger-Dörfer im Norden Wiens, das einige Kilometer nördlich der großen Universität für Veterinärmedizin und des Zentrums von Kagran gelegen ist. Die Eipeldauerstraße ist dort eine Hauptverbindung, die weiter nordwestlich in die Siemensstraße übergeht. An ihrer nördlichen Seite befindet sich eine große Wohnanlage der Gemeinde Wien (Josef-Bohmann-Hof), die 1978 fertiggestellt wurde.

Die inneren Verbindungswege sind nach Künstlern benannt: Kurt Ohnsorg, Kurt Absolon, Andreas Urteil, Herbert Böckl. Diese Wege führen auf einen zentralen Platz, der den Namen von Alfred Kubin trägt. Mehrere Wiener Architekten entwarfen die unterschiedlichen Zeilen der gesamten Anlage: Johann Georg Gsteu, Eva und Karl Mang, Annemarie Obermann und andere.

Der Bauteil von Gsteu mit seinen ausgeprägten Fassadenelementen in blau und rot liegt neben dem "Kurt-Absolon-Weg". Diese Anlage lässt sich in ihrer Gesamtheit als gelungenen Städtebau bezeichnen. Es fällt die angenehme Höhe der Wohntrakte auf, die mit vier Geschossen begrenzt wurde. Den Grünräumen zwischen den unterschiedlich gestalteten Bauteilen wurde große Aufmerksamkeit gewidmet, die leichten Verschiebungen der Wohntrakte zitieren die linsenförmige Form des Angers im nördlich angrenzenden alten Zentrum von Leopoldau. Auffallend sind auch die guten Proportionen der Gebäude, die durch das Verhältnis von Höhe und Länge der Bauteile zu den Freiräumen bestimmt werden.

Das ist so ziemlich das Gegenteil zu der gegenwärtig entstehenden Wohnbebauung am Gelände des früheren Nordbahnhofs im zweiten Bezirk, wo viel zu dichte und hohe Wohnbauten entstehen, wobei der Grundgedanke die maximale Ausnützbarkeit von Grundstücken und Bauhöhen zu sein scheint. Ob mit solchen Vorgaben guter Städtebau entstehen kann, sei infrage gestellt.

Kirche und Pfarrzentrum Oberbaumgarten, Wien-Penzing, erbaut 1965.
© Foto: Widder

Gsteus Wohnbau in Leopoldau weist eine weitere Besonderheit an den Fassaden auf: um die Monotonie von gleichförmigen Fensterachsen, die bei Wohnbauten nahezu unvermeidlich ist, zu durchbrechen, sind die Fenster vieler Wohnungen gemeinsam mit Loggien in vertikalen Gruppen organisiert, während zwischen diesen farbigen Elementen die Außenwände keine Fenster aufweisen. Das bildet eine außergewöhnliche Gestaltung der gesamten Fassade, die Monotonie vermeidet und der Fassade zurückhaltende skulpturale Aspekte verleiht.

Auffallend ist der gute Zustand dieser Anlage, was die Bauten betrifft. Keine Schmierereien auf Fassaden, kein Dreck auf den Wegen und den Rasenflächen, die sich wie frühere Angerflächen, linsenförmig, zwischen den viergeschossigen Wohnbauten ausdehnen.

Am späten Nachmittag und Abend war es dort sehr ruhig. Ich fuhr nach einigen Durchquerungen der Anlage zum Alfred-Kubin-Platz, wo sich, wie schon bei meinem letzten Besuch vor einem Jahr, türkische Familien aufhielten und Jugendliche mit Skate-Boards kurvten.

Das Kopfgebäude des Wohnbaus des Architekten Gsteu enthält dort im erhöhten Erdgeschoß ein Lokal mit kreisförmigen Öffnungen, die im Inneren runde Erkernischen bilden, die gute Situationen schaffen könnten, wenn die Einrichtung eine andere wäre.

Das geräumige Gasthaus hat den Namen "Nostalgia", frühere Bezeichnungen dafür waren "Bullauge" und "Popeye". Im Innenraum ist aufwendiger und teurer Einrichtungs-Kitsch dominant, leider recht typisch für eine Wiener Vorstadtsiedlung.

An einem frühherbstlichen Freitagabend bestand das Publikum aus einer kleineren Gruppe von Stammgästen. Sie kannten sich alle, pflegten eine reichlich derbe Vorstadtsprache voll Anspielungen und Sprachwitzen, die mich öfter an das Buch "Wiener Mysterien" von Christian Loidl denken ließ. Einerseits waren die Unterhaltungen primitiv und sexistisch, dann wieder geprägt von überraschend guten Formulierungen, aber innerhalb eines für mich nicht ergründbaren "umgangssprachlichen Codes".

Mir gegenüber verhielten sich die Leute auffallend höflich und freundlich, vor allem, als ich erklärte, dass ich den Architekten dieses Bauteils gekannt hatte. Der ältere Kellner Walter sagte mir, dass auf diesem Gelände ursprünglich internationale Mitarbeiter der "UNIDO" wohnen hätten sollen, doch denen war die gesamte Anlage sowie die Gegend zu minderwertig. (Welch eine falsche Einschätzung dieser internationalen Snobs!)

Ich erwähnte, wie auffallend der gepflegte Zustand der Wohnanlage sei. Meine Komplimente wurden von Walter und den Gästen mit gewissem Wohlwollen aufgenommen, aber dann hörte ich die für Wien nicht untypische Selbstkritik, oder war es die andere, nur zu gut bekannte Kritik an den sogenannten "Ausländern", die dort auch wohnen. Walter meinte, das gesamte Viertel wäre "verrufen", wegen eines Anteils an Ausländern von fünfzig Prozent. Das Leben am Kubin-Platz ist türkisch dominiert, und es wäre dort nächtens zu laut.

Da ich den Lärm erleben wollte, blieb ich länger dort, und es war auffallend still. Der einzige wirklich laute Gast war offensichtlich ein Wiener Anfang sechzig, der nichts anderes konnte als laut reden. Als ich abfuhr, war die Stille zwischen den Wohnbauten und innerhalb der Grünflächen mit hohen Kiefern nahezu unheimlich.

Bildhauerunterkünfte

Am Ostrand des Dorfs St. Margarethen, südlich von Oslip und Schützen, sind einige besondere Häuser der sechziger Jahre entstanden, die gemeinsame Elemente aufweisen: Das Bildhauerhaus, das 1962-68 nach den Entwürfen Gsteus errichtet wurde, sowie zwei weitere Häuser von Roland Rainer. Das sind drei flache Bauwerke, die von Frühling bis Herbst durch die wuchernden Hecken, Sträucher und Bäume so weit verdeckt werden, dass sie kaum mehr sichtbar sind. Der Westabhang des früheren Sandsteinbruchs wurde schon ab 1959 zu einem Begegnungsort für europäische Bildhauer, die in der "renaturierten" Heidelandschaft Skulpturen herstellten, von denen viele das Landschaftsbild oft sehr unerwartet prägen. Das Bildhauerhaus, das in der warmen Jahreszeit als Quartier für die Teilnehmer der Symposien für Bildhauer geplant war, hat eine Fassade aus Sandsteinquadern, schmalen, kleinen Fensterelementen sowie die weit ausladende Dachkonstruktion aus vorgefertigten Stahlbeton-Elementen.

An dem Nachmittag und Abend meines Besuchs Anfang September herrschte eine besondere Lichtsituation, die bewirkte, dass meine Aufnahmen wieder in diffusem Zwielicht geschahen. Ein sonniger Abend schien im Westen zu leuchten, hinter dem Semmering, und auch weit im Süden, beim Günser Bergland hinter dem ungarischen Köszeg leuchtete ein hellerer Abend.

Ich ging den Skulpturen-Hügel hinauf, durch die verwachsene Landschaft, mit intensiven Gerüchen. Ich war jahrelang nicht mehr dort gewesen, verlor deshalb auch einen schmalen Weg bei dichten Hecken. Das Bildhauerhaus war geschlossen, noch am Vortag hatte dort ein Seminar für Tänzer stattgefunden.

Das flache Gebäude, entworfen nach einem strengen Raster, verbindet gegensätzliche Elemente wie das Mauerwerk aus Sandstein (das einen archaischen Charakter vermittelt) mit den modernen U-Trägern aus Stahlbeton am Dach. Es sind auch die Stimmungen, die von diesem Gebäude vermittelt werden, oder die Gedanken, die sich beim Umrunden der rechteckigen Bauform ergeben, von Kontrasten geprägt.

Bei meinem ersten Besuch im September 1981 hatte mich dieses Bauwerk dermaßen beeindruckt, dass ich in der darauf folgenden Woche mit Architekt Gsteu einen Kontakt knüpfte, und danach im Herbst in seinem Büro arbeitete.

Eines der frühen Rätsel stellte sich auch bei meinem jüngsten Besuch wieder ein: Erzeugt die strenge Form (die mich immer an ein Zen-Kloster denken lässt) die eigenartige, berührende Aura des Orts, oder ist dort ein besonderer "genius loci" in der Heidelandschaft selbst, den das Gebäude des Architekten J. G. Gsteu nur verstärkt und interpretiert, vermittelt?

Baumgartner Kirche

Eine weitere Radtour führte mich zum äußersten Westrand von Wien, und vor dem Stadtteil Hütteldorf kam ich nach Oberbaumgarten im 14. Bezirk. Dort treffen die Hütteldorfer Straße und die Linzer Straße tangential zusammen. Im Bereich dieses Baumgartner "Spitzes" befindet sich das Pfarrzentrum und die Kirche der "Vier Evangelisten" von Gsteu, die 1965 fertiggestellt wurde.

Diese Anlage ist in eine Hanglage hineinkomponiert (ist man versucht zu sagen), die einen Höhenunterschied von etwa sieben Metern zwischen den beiden Straßen aufweist. Dabei folgt der Gesamtplan von Kirche und Pfarrzentrum (das aus weiteren drei Baukörpern besteht) einem quadratischen Rasterplan, der Innenräume wie auch Freiflächen nach quadratischen "Modulen" von 180x180 cm definiert.

Der Assistent der Pfarre, Herbert Wogowisch, führte mich freundlich durch die Anlage und sperrte die Kirche für mich auf. Auffallend war seine Kenntnis über den Architekten der wieder vor kurzem renovierten, nun bald fünfzig Jahre alten Anlage. Noch dazu wohnt dieser Mitarbeiter einer am Westrand Wiens gelegenen Pfarre im äußeren Norden von Donaustadt/Kagran, nämlich in Leopoldau, in der Nachbarschaft des Wohnbaus von J. G. Gsteu im Josef-Bohmann-Hof.

Ein sehr beeindruckender Innenraum, samt Altar, Bänken und allen weiteren Elementen wurde von Gsteu entworfen. Auch hier ist nach achtundvierzig Jahren der gute Zustand auffallend.

Bernhard Widder, geboren 1955 in Linz, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller, Lyriker, Essayist, Übersetzer und Architekt in Wien.