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Dauerimprovisation in Kiew

Von WZ-Korrespondent Denis Trubetskoy

Politik

Dunkel und laut ist es dieser Tage in der ukrainischen Hauptstadt. Eine Reportage aus dem Kriegsgebiet.


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Bereits seit mehr als zwei Monaten greift Russland gezielt die Energieinfrastruktur der Ukraine an, die heftigsten Attacken seit Wochen erschütterten am Freitag das Land. Auch die Hauptstadt Kiew gehörte zu den Prioritätszielen der Russen, die Metro stellte den Betrieb ein, die Stationen dienen als Bunker. Licht, Wasser und Heizung fielen aus. Die Menschen, die in der Kälte im Dunklen sitzen, werden aufgerufen, sich zu den zahlreichen Wärmestellen zu begeben.

Kiews Bürger müssen sich jetzt wieder deutlich stärker mit Realitäten des russischen Angriffskrieges auseinandersetzen. Kurz vor sechs Uhr morgens verkünden Sirenen den Luftalarm. Viele Menschen begeben sich gleich in die Luftschutzkeller, anders als im Sommer und im Frühherbst. Beim massenhaften Raketenbeschuss vor eineinhalb Wochen war die U-Bahn teilweise so voll, dass Passagiere an einigen Haltestellen aus Sicherheitsgründen nicht aussteigen durften. Doch auch diesmal ist die Zahl der Menschen, die Schutz in der U-Bahn suchen, groß.

Die Ukrainer haben gelernt, zwischen den Luftalarmen zu unterscheiden. Wenn dieser schnell im ganzen Land eingeschalten wird, bedeutet das meist, dass MiG-31-Abfangjäger, die Hyperschallraketen vom Typ Kinschal tragen können, zwischen den Flugplätzen in Belarus fliegen. Kinschal-Raketen sind für die ukrainische Flugabwehr ein nahezu unlösbares Problem. Die Gefahr ist jedoch theoretisch: Mit diesen Flügen versuchen die Russen vielmehr, die Bevölkerung der Ukraine mit im Schnitt einundeinhalb Stunden Luftalarm zu nerven. Man kann aber nicht ausschließen, dass Kinschals irgendwann doch fliegen.

Drohnen, die wie Mopeds klingen

In dieser Woche wissen die Kiewer aus sozialen Medien ganz genau, dass von Russland eingesetzte iranische Kampfdrohnen in Richtung der ukrainischen Hauptstadt fliegen. Es beginnt das große Zittern - nicht nur um die eigene Sicherheit. Diese Drohnen, die von den Ukrainern wegen des Geräusches als "Mopeds" bezeichnet werden, sind recht groß und laut. Sie sind kein besonders schweres Ziel und können auch mit einfachen Schusswaffen abgefangen werden. Doch es gibt in Kiew und Umgebung kaum ein Kraftwerk, dessen Infrastruktur von den russischen Angriffen noch nicht betroffen ist. Wenn von den sehr vielen Kampfdrohnen einige wenige durchkommen, wird die Energieversorgungslage in Kiew noch schlimmer.

Diesmal hatte die Hauptstadt Glück: Alle dreizehn Drohnen werden von der Flugabwehr abgefangen. Es gab auch keine Verletzten, obwohl Restteile einer Drohne zwei administrative Gebäude trafen. Die Menschen wissen: Es könnte jederzeit genauso kommen wie beim letzten erfolgreichen Beschuss der Russen am 23. Oktober, als viele Haushalte mehrere Tage lang ohne Strom, Wasser, Heizung und auch fast ohne Mobilfunkverbindung blieben.

Seitdem ist es den Energiebetreibern gelungen, die Lage zu stabilisieren. Der Plan für die sogenannten rollenden Abschaltungen, also kontrollieren Stromausfälle, klappt jedoch immer noch nicht. Auch unterscheidet sich die Situation auf den beiden Ufern des Dnipro-Flusses: Auf dem westlichen wurde weniger Infrastruktur beschädigt als auf dem östlichen. Umso unterschiedlicher fallen die tatsächlichen Stromabschaltungen zwischen den Stadtteilen aus.

Ob die Russen Kiew noch groß treffen oder nicht: Die Energiebetreiber sagen offen, dass sich die Ausgangslage bis Ende März nicht entscheidend verbessern wird. Zumindest planmäßige Abschaltungen sind Realität bis Ende des Winters. So ist das Leben der mit Abstand größten Stadt der Ukraine zur Dauerimprovisation in so gut wie in allen Bereichen geworden. Das abendliche Kiew ist heutzutage eine laute Stadt fast ohne Straßenbeleuchtung geworden. Laut ist sie, weil inzwischen fast jede Trafik und jedes kleine Geschäft einen Benzingenerator hat. Die fehlende Straßenbeleuchtung sowie bei Stromausfällen nicht funktionierende Ampeln führen dazu, dass die Zahl der Toten bei Verkehrsunfällen zeitweise um das Sechsfache gestiegen ist. Von rund 700 Kreuzungen in Kiew werden nur etwas mehr als 50 bei Stromabschaltungen von den Straßenpolizisten reguliert - diese sind besonders wichtig.

Doch ein Weihnachtsbaum für die Kinder

Nach vielen Diskussionen hat sich die Stadt dafür entschieden, den traditionellen Weihnachtsbaum auf dem Sophienplatz zu installieren, um den Kindern zumindest ein bisschen Freude zu bereiten - und zwar mit stromsparenden Lichterketten. Doch das Einzige, was vom Weihnachts- beziehungsweise dem in der Ukraine wichtigeren Neujahrsfest in der Luft liegt, ist die riesige Nachfrage nach den batteriebetriebenen Lichterketten. Sie haben sich bei Stromausfällen als sehr praktisch erwiesen. "Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in einem Winter so viele verkauft haben", sagt eine Verkäuferin eines großen Technik-Supermarkts. Dass es Rekordverkäufe von Powerbanks oder Kerzen gibt, versteht sich unter den Kriegszuständen von selbst.

Nach dem Massenangriff vom 23. November durften Käufer nur eine begrenzte Stückzahl von Kerzen erwerben. Sich als kleiner Unternehmer von heute auf morgen einen Benzingenerator zu kaufen, klappt ebenfalls nicht. Obwohl die ukrainische Regierung die Einfuhrsteuer für Generatoren gestrichen hat, müssen die Besitzer von kleineren Trafiken oder Kaffeeständen fast 2.000 Euro für einen Generator ausgeben. Hinzu kommen Benzinkosten. Petro Kutscherenko, der Besitzer von zwei Kaffeeständen im Norden der Stadt, hat zwei Generatoren gekauft. Doch finanziell ist seine Rechnung durchwachsen. "Das zahlt sich aus, wenn andere nicht arbeiten. Man verdient dann mehr als sonst und macht die zusätzlichen Ausgaben wett", sagt der immer lächelnde Kutscherenko. Inzwischen hätten aber so gut wie alle bei ihm um die Ecke einen Generator. Doch er würde selbst dann arbeiten, wenn es ein Minusgeschäft wäre: "Für mich ist es am wichtigsten, dass ich überhaupt arbeiten kann. Ich würde verrückt, wenn ich diesen Teil des Alltages nicht hätte."

Kutscherenkos Kunden stehen gelegentlich vor dem Problem der Bezahlung. Gerade in Großstädten wie Kiew sind Kartenzahlungen in den vergangenen Jahren sehr beliebt geworden. Doch bei Stromausfällen funktionieren sie oft nicht. Daher versuchen die Menschen, so viel Bargeld wie möglich abzuheben. Dieses wird aber, soweit es geht, nicht ausgegeben, um es für den Fall eines größeren Blackouts in der Schublade zu lassen. Sobald es nur eine Möglichkeit gibt, bezahlen die Menschen mit Karte. Das führt bereits zu einer kleinen Bargeldkrise.

Keine Proteste, wie vom Kreml erhofft

Obwohl die Lage in den nächsten Wochen und Monaten wohl nicht besser wird, ist Kiew nicht anzumerken, dass eine bedeutende Anzahl der Menschen die Stadt wieder verlässt. Leute wie die junge Wirtschaftsstudentin Walerija Kalyniwska, die für die Wintermonate zu ihrer Mutter nach Polen zieht, sind eher eine Ausnahme. "Irgendwann hatte ich genug und wollte im Winter meine Ruhe haben. Ich kehre aber im Frühjahr zurück", erzählt sie. Von bedeutenden Straßenprotesten, auf die vermutlich der Kreml hofft, fehlt jede Spur: Wenn es kleinere Aktionen gibt, haben sie fast ausschließlich mit aus der Sicht der Bewohner ungerechter Stromverteilung und nicht mit Stromabschaltungen an sich zu tun.

Die Grundstimmung der Kiewer gibt der aus dem besetzten Gebiet des Bezirks Donezk stammende Oleh Barkow wieder: "Wer die Russen wirklich sind, weiß ich seit acht Jahren", sagt der Mann. Barkow arbeitet in der Pressestelle des Fußballvereins Schachtar Donezk, der kriegsbedingt mittlerweile nach Kiew übersiedelt ist: "Die Männer an der Front haben es schwerer als die Menschen in Kiew ohne Strom. Wir werden das hier sicher überleben."