Als Antwort auf die Proteste der Gelbwesten stellt sich Präsident Emmanuel Macron nun lokalen Bürger-Diskussionen. Viele beteiligen sich - und allmählich steigen Macrons Beliebtheitswerte.
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Nogent-sur-Marne/Paris. Das "administrative Mille Feuille" gehört abgeschafft. Hierin sind sich Gérald und Catherine, Hugo und Didier einig. Auf einen gelben Post-it-Zettel haben sie diesen Vorschlag geschrieben und ihn an eine Wand geheftet. Konkreter ausgeführt wird er nicht, erhält aber lautstarke Zustimmung in der Gruppe.
Mille Feuille, der Name der französischen Gebäckspezialität, muss aufgrund seiner diversen Blätterteig-Schichten oft für das ebenso vielschichtige Wirrwarr herhalten, das die französischen Verwaltungseinheiten kennzeichnet: Die jeweiligen Zuständigkeiten der 18 Regionen, 101 Départements, 4039 Kantone und 36.000 Gemeinden zu erfassen, erfordert den Besuch von ein bis zwei Elitehochschulen, schätzt Gérald ironisch schmunzelnd. Und hier muss er passen: "Ich war nur Elektriker."
Weil ihn solche in seinen Augen "absurden Zustände" stören, sitzt der Pensionist an einem Donnerstagabend im Vereinshaus von Nogent-sur-Marne bei Paris und diskutiert mit etwa 30 Mitbürgern darüber, wie sich die Organisation des Staates verbessern lässt. Es handelt sich um eine Veranstaltung im Rahmen der "Großen nationalen Debatte", die Präsident Emmanuel Macron im Jänner lanciert hat. Mit diesen Debattenrunden auf lokaler Ebene reagierte er auf die soziale Krise im Land, die durch die Protestbewegung der Gelbwesten offenkundig geworden war. Indem die Bürger zur konstruktiven Mitarbeit aufgerufen wurden, so lautete das Kalkül, sollten sie wieder Vertrauen in die Politik gewinnen.
Gelbwesten nehmen kauman Debatten teil
Im Fernsehen wird zwar vor allem gezeigt, wie sich der Präsident Fragen von Bürgern und Lokalpolitikern stellt und ihnen mit demonstrativer Aufmerksamkeit zuhört. Als "Macron-Show" verspotten seine Gegner die Auftritte und werfen ihm vor, bereits Wahlkampf für die Europawahl Ende Mai zu machen.
Fernab der Kameras wurden allerdings in den vergangenen zwei Monaten überall im Land rund 6500 Bürgerdebatten organisiert, meistens von Mitgliedern von Macrons Partei La République en Marche (LREM), wie auch in Nogent-sur-Marne. Hier bedienen sich die Organisatoren von der Partei zur Verfügung gestellter Fragebögen, um den Diskussionen einen Rahmen zu geben.
Jene, die sich beteiligen, gehören selten zu den rebellischen Gelbwesten, die weiterhin jeden Samstag für bessere Kaufkraft, geringere Abgaben und oft auch für Macrons Rücktritt demonstrieren. Allerdings sinkt ihre Zahl Woche um Woche auf zuletzt landesweit rund 40.000 Personen. Lange unterstützte eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung die Bewegung, aber inzwischen wünschen sich rund zwei von drei Franzosen deren Ende.
Zu ihnen dürfte auch Macron gehören. Nachdem er zu Beginn seiner Amtszeit auch dank der LREM-Mehrheit in der Nationalversammlung seine Projekte schnell umsetzen konnte, geriet er durch die Gelbwesten stark unter Druck. Die Regierung setzte einen Anstieg der Ökosteuer auf Kraftstoff aus und entlastete einen Teil der Pensionisten von steigenden Sozialabgaben. Schließlich kündigte Macron sogar eine Erhöhung des Mindestlohns an, was die Staatskasse mit zehn Milliarden Euro belastet. Die geplanten Reformen der Arbeitslosenversicherung mit schärferen Kontrollen von Jobsuchenden sowie des Pensionssystems will er trotzdem durchziehen.
"Es ist ein riesiges kollektives Scheitern"
Doch vorher gilt es die Lage zu beruhigen. Allmählich steigen Macrons Beliebtheitswerte wieder auf das Niveau von vor der Gelbwesten-Krise, also auf 25 Prozent. Er selbst räumte gegenüber Journalisten ein, er habe das Ausmaß der Wut im Land unterschätzt: "Es ist ein riesiges kollektives Scheitern und ich übernehme meinen Teil der Verantwortung", sagte er. "Aber ich habe noch drei Jahre, um das zu ändern."
Die Regierung hat versprochen, aus den zigtausenden Vorschlägen, die aus den Debatten hervorgehen oder im Internet eingestellt wurden, Schlüsse zu ziehen. Darauf wird es ankommen, ob sie dauerhaft wieder an Glaubwürdigkeit gewinnt.
Noch erscheint unklar, ob und wie beispielsweise auf die populäre Forderung nach mehr Volksbefragungen eingegangen wird. Oder inwiefern sich das "administrative Mille Feuille" vereinfachen lässt. Das erwartet man aber nicht nur in Nogent-sur-Marne.