Der Einsturz von Teilen der Decke des Sitzungssaals des Europäischen Parlaments in Straßburg wirft erneut die Frage nach der Sinnhaftigkeit mehrerer Tagungsorte auf.
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Am 7. August dieses Jahres löste sich ein Teil der Deckenverkleidung im Straßburger Plenarsitzungssaal des Europäischen Parlaments (EP) und stürzte auf die Sitzreihen der Abgeordneten. Laut Expertenbericht handelte es sich dabei um eine Deckenfläche von 335 Quadratmetern, die rund 15 Meter tief abstürzte.
Bedenkt man, dass das Gewicht eines jeden Quadratmeters der Decke rund 50 Kilogramm betrug, kann man sich die tödliche Wucht dieses Deckensturzes vorstellen. Bei einem voll besetzten Plenarsaal hätte das zu einigen Dutzend Todesfällen - genau auf den Plätzen der konservativen und christdemokratischen Abgeordneten - führen können. Zum Glück befanden sich die 785 Parlamentarier aber in den Ferien, sodass es zu keinen Personenschäden kam.
14 Tage später entschied das EP-Präsidium, die erste September-Plenarsitzung in den neu errichteten Sitzungssaal des EP nach Brüssel zu verlegen, ebenso wie es auch am 3. September erneut die Dislozierung der nächsten Plenarsitzung des EP nach Brüssel anordnen musste. Sollte die Nichtbenützung des Strassburger Sitzungssaales länger andauern, entsteht für Frankreich ein veritables Problem: Es muss dann fürchten, dass es erneut zu einer Diskussion über die Sinnhaftigkeit und die Kostenfrage der
rotativen Tagungen des EP an verschiedenen Orten kommt.
Das Parlament als Wanderzirkus
Dass das EP über keinen einheitlichen Sitz verfügt, hat politische Gründe. Die Gründungsväter der 1951 gegründeten Montanunion konnten sich nicht auf einen definitiven Sitz für ihre damalige Versammlung einigen, die zunächst als vorläufigen Arbeitsort die Räumlichkeiten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg zugewiesen bekam. Das führte immer wieder zu Verwechslungen zwischen beiden parlamentarischen Organen. Mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) 1957 und der Umbenennung der gemeinsamen Versammlung in EP wurde ein Teil der parlamentarischen Aktivitäten nach Brüssel verlagert, während das Sekretariat des EP in Luxemburg verblieb.
Diese drei vorläufigen Arbeitsorte des EP, nämlich Straßburg, Luxemburg und Brüssel wurden am Europäischen Rat in Edinburgh Ende 1992 politisch fixiert und in der Folge durch das "Protokoll über die Festlegung der Sitze der Organe der EU" als Anhang zum Vertrag von Amsterdam (1997) primärrechtlich verankert.
Demgemäß hat das EP seinen Sitz in Straßburg, wo auch die zwölf monatlichen Plenartagungen, einschließlich der Haushaltstagung, stattfinden. Zusätzliche Plenartagungen sowie Ausschusssitzungen finden in Brüssel statt. Das Generalsekretariat des EP und seine Dienststellen verbleiben in Luxemburg.
Dieser von Frankreich gegen den Widerstand Belgiens durchgesetzte "Wanderzirkus" des EP verursacht exorbitante Umzugskosten von mehr als 200 Millionen Euro pro Jahr, müssen doch neben den 785 Abgeordneten auch große Teile der über 4000 Beamten des EP sowie Assistenten etc. monatlich zwischen Straßburg und Brüssel, zum Teil aber auch Luxemburg, hin und her pendeln.
Vor allem politisch kann und will es sich Frankreich aber keinesfalls leisten, dass an dieser wirtschaftlich nicht sinnvollen Regelung auch nur im Geringsten gerüttelt wird. Es wird daher alles versuchen, um den Schaden im Plenarsitzungssaal in Straßburg bald zu beheben, damit bei den Abgeordneten kein Gewöhnungseffekt für die bequemeren Sitzungen am alleinigen Tagungsort Brüssel entsteht.
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