Die Türkei macht die Kurden für den Anschlag mit 28 Toten in Ankara verantwortlich. Der Syrien-Krieg verschärft sich damit erneut.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Ankara. Die Schuld am Anschlag vom Mittwochabend in Ankara mit mindestens 28 Toten, darunter 20 hochrangige Armeeoffiziere, hat die türkische Regierung kurdischen Milizen aus Syrien und der Türkei zugewiesen. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu erklärte am Donnerstag, der verheerende Anschlag sei von der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zusammen mit den syrisch-kurdischen Volksverteidigungskräften (YPG) verübt worden. Bei dem Attentäter habe es sich um einen 23-jährigen Syrer gehandelt, der "definitiv" ein YPG-Mitglied gewesen sei. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sagte, insgesamt seien 14 Verdächtige festgenommen worden.
Die PKK und die syrischen Kurden wiesen die Vorwürfe zurück und bestritten eine Verwicklung in den Angriff auf einen Militärkonvoi mitten im schwer gesicherten Regierungsviertel der türkischen Hauptstadt. Bis zum Donnerstagnachmittag bekannte sich niemand zu der Tat. Kommentatoren regierungsnaher Zeitungen in der Türkei wiesen dem Westen und "internationalen Mächten" eine Mitschuld zu, weil sie die YPG in Syrien unterstützten. Die Gewalt im Kurdenkonflikt eskalierte unterdessen weiter.
Von den USA unterstützt
Trotz einer sofort nach dem Anschlag verhängten Nachrichtensperre berichteten türkische Medien unter Berufung auf die Polizei weitere Details über den Attentäter von Ankara, der anhand von Fingerabdrücken und Körperteilen identifiziert worden sei. Es soll sich demnach um einen Mann namens Salih Necar aus der gemischtethnischen Stadt Hassakah handeln, der als Flüchtling in die Türkei gekommen ist. Er soll das Anschlagsauto gefahren haben und durch die Explosion getötet worden sein. Das Auto sei vor rund zwei Wochen in der Stadt Izmir im Westen der Türkei angemietet worden.
Die Explosion war bereits der zweite schwere Terrorangriff in Ankara innerhalb von vier Monaten. 102 Menschen starben beim verheerenden Selbstmordanschlag auf eine prokurdische Friedensdemonstration am 10. Oktober. Diese Tat wurde laut türkischen Ermittlern ebenso von IS-Mitgliedern begangen wie der Anschlag vom 12. Jänner in der historischen Altstadt von Istanbul, bei dem elf deutsche Urlauber den Tod fanden. Die Dschihadisten bekannten sich zu keiner dieser Taten. Der IS hatte allerdings kürzlich öffentlich damit gedroht, türkische Soldaten zu töten.
Premier Davutoglu erklärte jedoch in seiner live vom Fernsehen übertragenen Rede, vor allem das Assad-Regime in Damaskus sei direkt für den Anschlag verantwortlich, denn die Kurdenmiliz YPG sei dessen Werkzeug: "Wir haben deshalb das Recht, alle möglichen Maßnahmen gegen das syrische Regime zu ergreifen." Er warnte alle Länder davor, einen "Feind der Türkei" zu unterstützen, denn dies könne ihren Status als befreundete Nationen gefährden. "Es steht außer Frage für uns, keine Toleranz gegenüber einer Terrororganisation zuzulassen, die unsere Bürger in unserer Hauptstadt attackiert." Diese Äußerungen zielen vor allem auf Washington, das die YPG als ihren wichtigsten Verbündeten in Syrien gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) betrachtet und das Ansinnen Ankaras, die YPG genau wie die PKK als Terrororganisation einzustufen, bisher zurückweist.
Die USA stellen sich auch gegen den Wunsch der Türkei, eine Flugverbotszone in Syrien einzurichten und Bodentruppen zu schicken, um gemeinsam gegen die Kurdenmiliz vorzugehen, die im Windschatten des Kampfes um die Millionenstadt Aleppo mit russischer Luftunterstützung derzeit Gebiete entlang der türkischen Grenze erobert, die bisher von arabischen Rebellen gehalten werden. Seit Sonntag beschießt die türkische Armee YPG-Stellungen mit Artillerie, denn Ankara fürchtet, dass ein zweiter kurdischer Quasistaat wie im Nordirak an der Grenze entsteht.
Die kurdischen Milizen dementierten jedoch eine Beteiligung an dem Terrorangriff von Ankara. Der PKK-Kommandeur Cemil Bayik sagte der kurdischen Nachrichtenagentur Firat am Donnerstag: "Wir wissen nicht, wer das getan hat. Es könnte aber ein Vergeltungsschlag für die Massaker in Kurdistan gewesen sein."
Kurden weisen Vorwürfe zurück
Seit dem Ende der Friedensverhandlungen und eines zweijährigen Waffenstillstands zwischen dem Staat und der PKK im vergangenen Juli ist der Bürgerkrieg im Südosten der Türkei neu entbrannt und eskaliert jeden Tag weiter. Polizei und Armee stehen dort im Häuserkampf bewaffneten Mitgliedern der PKK-Jugendbewegung YDG-H gegenüber. Am Donnerstag kamen bei einem Angriff mit einer ferngezündeten Bombe auf ein Militärfahrzeug nahe Diyarbakir erneut sechs Soldaten ums Leben, einer wurde schwer verwundet. Nach Angaben des türkischen Generalstabs wurden seit Juli mehr als 200 Sicherheitskräfte und seit Dezember mindestens 850 PKK-Kämpfer getötet. Die im Parlament vertretene prokurdische Linkspartei HDP spricht von mindestens 200 getöteten Zivilisten.
Auch die syrische Kurdenpartei PYD, der politische Arm der YPG, hat jegliche Verantwortung für den Anschlag von Ankara zurückgewiesen. "Wir bestreiten jede Beteiligung", sagte der Co-Vorsitzende der Partei, Salih Muslim, am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP. Seine Partei betrachte die Türkei nicht als Feind. Die türkischen Anschuldigungen seien Teil einer "Eskalationspolitik" gegen kurdische Parteien. Wie der Kurdenführer, so verurteilten die Syrischen Demokratischen Kräfte, ein Zusammenschluss kurdischer und arabischer Milizen unter Führung der YPG, den Anschlag.
Die türkische Führung zeigte sich von den Dementis unbeeindruckt. Ministerpräsident Davutoglu erklärte, dass die Türkei weiterhin YPG-Stellungen in Nordsyrien beschießen werde. Staatspräsident Erdogan drohte, alle Verantwortlichen würden zur Rechenschaft gezogen werden. Wer damit gemeint ist, wurde noch in der Nacht zum Donnerstag klar. Die türkische Luftwaffe griff mehrere mutmaßliche PKK-Stellungen im Nordirak an und gab bekannt, sie habe dabei "70 Kämpfer neutralisiert". Unter Beobachtern in der Türkei wuchs am Donnerstag die Sorge, dass die Türkei nun auch ohne Abstimmung mit ihren westlichen Partnern Bodentruppen gegen die Kurden nach Syrien schicken könnte.