Politik, Gesellschaft und Werbung verändern, was im Laufe der Zeit gefühlt wird.
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"Wiener Zeitung": Als Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung leiten Sie auch Projekte zur Geschichte der Gefühle. An welchem Punkt stehen Sie gerade?
Ute Frevert: Gefühle machen Geschichte und Gefühle haben Geschichte. Wir erforschen, inwieweit Gefühle Motoren der Veränderung und des Handelns in historischen Prozessen sind - etwa in sozialen Bewegungen oder bei politischen Entscheidungen. Denn Gefühle sind nicht immer gleich. Die Art und Weise, wie ein Gefühl gesellschaftlich gerahmt ist, verändert, wie es gefühlt wird. Was wir heute als Liebe empfinden, ist nicht per se das, was man vor 300 Jahren als Liebe empfunden haben mag.
Manche würden dagegenhalten, dass Empfindungen eine Konstante der Persönlichkeit sind. Die eigenen Gefühle sind immer die eigenen - nur ich kann so lieben, wie ich liebe. Sind wir wirklich so sozial, dass die Gesellschaft formen kann, was wir fühlen?
Das kann sie, denn das Individuum bleibt ja nicht gleich. Es verändert sich im Lauf seiner Entwicklung. Psychologen haben etwa gezeigt, dass junge Leute eher bereit sind, negative Gefühle zuzulassen und zu empfinden als ältere Leute, die eher geneigt sind, ihre Gefühle positiv zu interpretieren. Der gleiche Mensch fühlt also als Kind anders als in seiner mittleren Lebensphase. Hinzu kommt, dass wir als gesellschaftliches Wesen auf die Welt kommen, sonst könnten wir nicht überleben: Eltern und Familie formen uns.
Wenn Sie als kleines Mädchen dauernd gesagt bekommen, du solltest dich schämen, deine Strümpfe sind zerrissen und dein Rock hat einen Fleck, dann sind Sie zunächst einmal beschämt. Selbst, wenn Sie sich später gegen dieses Kommando auflehnen, sind Sie zunächst abhängig von Gefühlsanweisungen und den Gefühlskodizes in ihrer Umwelt. Natürlich haben wir später mehr Wahlmöglichkeiten, können uns unsere Freunde und Peer Groups auswählen. Aber sobald wir einer Gruppe zugehören wollen, sind wir an die emotionalen Codes dieser Gruppe gebunden, die wir übernehmen und die uns prägen.
In welchen Bereichen hat die Gesellschaft die Gefühle der Menschen in den vergangenen 100 Jahren am stärksten verändert?
Auf der Ebene der Politik hat die Demokratie den öffentlichen Gefühlscode stark beeinflusst. Demokratie nimmt als inklusive Veranstaltung alle Bürger mit und ist auf die Bürger angewiesen über Wahlen und die Teilnahme an sozialen Bewegungen. Sie fordert, dass man lernt, sich über die eigene Person, die eigenen Wünsche und Ängste klar zu werden und diese zivilisiert zum Ausdruck zu bringen. Wenn Menschen in der Demokratie zusammenarbeiten wollen, müssen sie sich aufeinander einlassen und andere als Mitglieder des gleichen Projekts sehen, in einem demokratischen Land ein Gemeinwesen zu leben.
Auf wirtschaftlicher Ebene versucht besonders die Dienstleistungsökonomie, eine permanente emotionale Selbst-Mobilisierung zu erreichen: Ich bin mein eigener Herr, Unternehmer meines Selbst und verantwortlich dafür, wie es mir geht. Ich muss auf mich achten und sehen, dass ich meine Interessen auch mit meinen Gefühlen darüber in Einklang kriege. Es ist eine Art ökonomische Selbst-Optimierung, Selbst-Produktivierung, Selbst-Regulierung und Selbst-Motivierung. Man kann nicht einfach auf fantastische Arbeitsverhältnisse warten, sondern man muss etwas dafür tun: Diese Botschaft hat den emotionalen Code in der Arbeitswelt verändert.
Auf privater Ebene ist auch die Betroffenheitskultur, die in den 70er und 80er Jahren entstand, interessant. Alles hat uns damals wahnsinnig betroffen gemacht - das Unglück der Welt, das Sterben der Wälder. Das Leiden mobilisierte uns dazu, uns zu wehren. Gefühlsrhetorik war dabei sehr wichtig, gleichzeitig war sie aber verbunden mit einer - gefährlichen - Herangehensweise, zu hinterfragen, ob wir unseren Gefühlen überhaupt vertrauen. Daraus entwickelte sich in den 1980er Jahren die New-Age-Bewegung, die ich immer noch am Werk sehe, nur stärker reguliert, zum Beispiel über die Werbung.
Haben wir Gefühl verloren?
Das haben wir nicht. Gefühle kommen in der Regel in Mischverhältnissen daher und sind zum Teil flüchtig. Aber da man über sie reflektiert und sie kommuniziert, würde ich nicht von Verlust sprechen. Jedoch gibt es unterschiedliche Arten und Weisen, wie Institutionen und Kulturen mit Gefühlen, die immer etwas Unwägbares haben, umgehen.
Heute etwa operiert die Werbung mit Gefühlen, die explizit genannt werden bis zu dem Punkt, an dem keine einzelnen Gefühle mehr angesprochen werden. Nur noch das Wort "Emotion" steht im Mittelpunkt und ist für sich aussagekräftig genug, um Kunden zu werben. Automodelle, Kosmetikserien, Mineralwasser oder Fertigsalate heißen "Emotion". Man kann sagen, dass sei schlechte Werbung. Aber Werbebüros sind ja nicht dumm und machen sich eine Vorstellung davon, was Menschen positive Vibrationen verpasst und sie zu dem Produkt greifen lässt. Die kommerzielle Schiene kidnappt unseren Wunsch nach einer erfüllten Gefühlswelt und benutzt sie, um Umsätze zu machen - Gefühle sind ein Botenstoff, und die Werbung baut darauf auf. Auch in diesem Sinn ist die Idee, dass meine Gefühle nur mir ganz alleine gehören und ich über sie verfüge, ein Mythos. Es stimmt nämlich einfach nicht, dass nur ich weiß, wie sich etwas anfühlt, sondern auch andere wissen es. Deswegen kann man auch über Gefühle so wunderbar kommunizieren.
Im Nationalsozialismus wurden die Gefühle von Massen mit Propaganda für alle Sinnes- und Gefühlsebenen mobilisiert. Was tut die Politik heute mit unseren Gefühlen? Wie manipulieren Demokratien Bürger?
Ich würde nicht von Gefühlsmanipulation reden. Manipulation lässt die Vorstellung aufkommen, es gebe so etwas wie wahre und falsche Gefühle, und diese falschen Gefühle werden durch manipulative Tricks hergestellt. Ich würde stattdessen sagen, die Nationalsozialisten haben eine Gefühlspolitik gemacht, in der Begriffe wie Treue und Ehre eine sehr große Rolle gespielt haben, aber dass man nicht davon ausgehen muss, dass das den Leuten einfach übergestülpt wurde. Es war vielmehr eine unglaublich geschickte Propaganda - eine geschickte Gefühlspolitik -, die bewirkte, dass Menschen in diesen Treue-Kategorien, an die sie unmittelbar anknüpfen konnten, ihr eigenes politisches Gefühl für den Führer und die Partei fanden und sich darin aufgehoben fühlten. Deswegen hatten viele Menschen nachher das Gefühl, sie kämen gar nicht so schnell wieder davon weg.
Die Gefühlspolitik der Demokratie hat zum Teil ähnliche Begriffe, nur sind sie anders codiert. Vertrauen etwa zieht sich durch alle Regime. Vertrauen, das wir im Ostblock als bedingungslos definiert haben, ist eigentlich kein Vertrauen. Die Demokratie geht eher zu an Bedingungen geknüpftes Vertrauen zurück: Ich vertraue dir so weit, als dass ich glaube, dass du dich an die Regeln unseres Verhältnisses hältst. Wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, kann ich vertrauen, wenn nicht, höre ich damit auf. Hinzu kommt, dass wir hierzulande keine Propagandaministerien mehr haben.
Viele PR-Fachleute geben aber ihr Bestes, um uns bestimmte Sachverhalte glauben zu lassen.
Pressestellen, PR-Agenturen und nicht zuletzt die Medien selbst fahren Skandalisierungsstrategien und putschen Gefühle auf: Die Gefühlstrommel wird massiv gerührt, bloß nicht mehr von einer Stelle und in eine Richtung, sondern von vielen Gruppen in gegenläufige Richtungen. Es ist die Herausforderung moderner Demokratie, diese Spannung auszuhalten. Das Faszinierende liegt ja auch darin, mit Fremdem, Unbekanntem, Unvertrautem und Unheimlichem konfrontiert zu sein. Westliche Gesellschaften des frühen 21. Jahrhunderts können sehr viel besser damit umgehen als noch vor 100 Jahren. Wir haben unglaubliche Gewinne verbucht in puncto Toleranz für anderes Fühlen und wechselseitigen Respekt.
Zur PersonUte Frevert, geboren am 10. Juni 1954, ist Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Die Historikerin untersucht mit einem 30-köpfigen Team die Macht der Gefühle in politischer Kommunikation und soziale Gefühle und politische Praktiken. Ute Frevert studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an den Universitäten Münster und Bielefeld und an der London School of Economics und war 2003-2007 Professorin für Deutsche Geschichte an der Universität Yale. Die verheiratete Mutter dreier Kinder ist Autorin zahlreicher Bücher, heuer erschienen "Vertrauensfragen: Eine Obsession der Moderne" (C. H. Beck) und "Vergängliche Gefühle" (Wallstein). Bei der Tagung "Emotion als Regierungstechnik" des Instituts für Politikwissenschaften referierte sie jüngst an der Universität Wien.
Website Max-Planck-Institut für Bildungsforschung