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Déjà-vu am Kaukasus

Von Wolfgang Tucek

Politik

Am Sonntag lässt der Kreml Alu Alchanow, den bisherigen Innenminister und Vertrauten des ermordeten tschetschenischen Präsidenten Achmad Kadyrow, zu dessen Nachfolger wählen. Damit hält der russische Präsident Wladimir Putin an seiner Politik der "Normalisierung" der Lage in der vom anhaltenden Krieg zertrümmerten Kaukasusrepublik fest, die letzten Herbst schon seinen Protegé Kadyrow ins Amt gespült hatte.


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Unter dem Hohngelächter der privaten russischen Medien hielt der Inlandsgeheimdienst FSB die nahezu synchronen Flugzeugabstürze mit 89 Toten am Dienstag bis Freitag offiziell durchaus für einen aberwitzigen Zufall. Das konnte eine unangenehme Folge für Putin nicht abwenden: Die Welt blickt wieder nach Tschetschenien.

Dort finden am Sonntag neuerlich von Moskau festgelegte Wahlen statt. Die Lage in der kriegszerrissenen Teilrepublik sei im Griff, wird der Kreml nicht müde zu versichern. Zwischenfälle, wie jene am 9. Mai, dem "Tag des Sieges" (der Sowjettruppen über Nazideutschland), als Achmad Kadyrow, der russische Statthalter im Range eines Präsidenten, inmitten des zur Hochsicherheitszone umfunktionierten Fußballstadions von Grosny in die Luft gesprengt wurde, schwört Putin stets gnadenlos zu vergelten.

Neben Kadyrow auf der Tribüne stand damals ein gewisser Alu Alchanow, der bis dahin weitgehend unbekannte Innenminister Tschetscheniens. Der absolut Moskau-treue Karrierepolizist und enge Vertraute des verstorbenen Statthalters soll nun der neue Präsident Tschetscheniens werden, beschloss der Kreml.

Putin gibt sich unbeirrbar

Mit ihm und Ramsan Kadyrow, dem als unberechenbar geltenden Sohn des Anschlagopfers, stand Putin auch letzten Sonntag am Grab des "unbesiegt ermordeten Helden" wie der russische Machthaber den Verblichenen glorifizierte. Der Wahlkampfauftritt mit Alchanow war allerdings von einer Welle der Gewalt überschattet. Mehr als 50 Menschen - laut Medienberichten gar 120 - starben tags zuvor bei einem Rebelleneinfall in Grosny. Kein Indiz für die "Normalisierung" die der Kreml unbeirrbar propagiert. Seit dem im März 2003 abgehaltenen Referendum, das Tschetschenien unwiderruflich an die Russischen Föderation binden soll, werde alles besser, so der Tenor.

Die Faktenlage in der größenmäßig mit der Steiermark vergleichbaren Kaukasusrepublik zeugt nicht von einer erfolgreichen Taktik Moskaus: Die nahezu 80.000 russischen Soldaten, Polizisten und Geheimdienstbeamte müssen fast täglich Verluste durch Überfälle "bewaffneter Banden" hinnehmen. Auf spektakuläre Rebellenaktionen, wie der Angriff auf Regierungseinrichtungen der Nachbarrepublik Inguschetien im Juni mit fast 100 Toten folgen willkürliche Strafexpeditionen.

Separatisten haben Zulauf

Laut der Menschenrechtsorganisation Memorial wurden allein im ersten Halbjahr dieses Jahres 251 Menschen entführt, 114 verschwanden spurlos, 15 von ihnen wurden tot aufgefunden. Diese Politik der Angst treibt den Separatisten um den einst demokratisch gewählten Präsidenten Aslan Maschadow neue Kämpfer in die Arme. Dieser hatte, obwohl er nur noch über geschätzte 1.000 bis 2.000 Kämpfer verfügt, vor kurzem mit einer Intensivierung der Angriffe auf russischem Territorium außerhalb Tschetscheniens gedroht. Der Wahlsieger vom Sonntag werde umgehend ermordet. Alchanow sei ein "Opferlamm" und eine "Geisel des Kremls".

Heroischer Bahnhofspolizist

Der blasse Ex-Innenminister dürfte den Separatisten ein besonderer Dorn im Auge sein. Schon im ersten Tschetschenienkrieg arbeitete er als Bahnhofspolizist für die Russen, nachdem diese 1995 Grosny eingenommen hatten. Als die Rebellen 1996 die Hauptstadt zurückeroberten soll er mit einer Hand voll Männer acht Stunden lang heldenhaft den Bahnhof verteidigt haben. 1997 bis 2000 verbrachte er im Exil. Im März 2003 wurde er dann auf Anraten Kadyrows von Putin zum Minister ernannt.

Wahlausgang gesichert

Dass er ab Sonntag den gefährlichsten Krisenherd Russlands verwalten wird, steht außer Zweifel. Sein einzig ernst zu nehmender Gegenkandidat, der in Tschetschenien beliebte Geschäftsmann Malik Saidullajew, wurde wegen Formfehlern von den Wahlen ausgeschlossen - wie schon letzten Herbst bei seinem Antrittsversuch gegen Kadyrow Senior. Darüber hinaus schätzt Memorial, dass gut ein Viertel der knapp 600.000 registrierten Wahlberechtigten real nicht existiert, und daher beliebig dem gewünschten Sieger zugerechnet werden kann.

Interessenskonflikte

Doch mit seinem sicheren Sieg beginnen für Alchanow die Probleme erst. Denn anders als der frühere Rebell Kadyrow hat der unerfahrene Alchanow keine Hausmacht in Grosny. Er wird die Machtinteressen des Kremls daher vor allem gegen die von Kadyrows Sohn Ramsan abwägen müssen. Der 27-Jährige kommandiert die rund 6.000 Mann starke Leibgarde seines Vaters. Dieser Miliz werden grauenhafte Gewalttaten nachgesagt. Mit ihrem Instrumentarium aus Mord, Folter, Vergewaltigung und Plünderung sorgen sie für das Einkommen ihres Befehlshabers. Dieser wurde zwar nach dem Mord an seinem Vater zum Vizeregierungschef ernannt, soll damit aber nicht ganz zufrieden sein. Für das Präsidentenamt hat er jedoch nicht das Mindestalter von 30 Jahren.

Als Rückendeckung für Alchanow hat Putin ihm letzte Woche die Verfügungsgewalt über die tschetschenischen Erdöleinnahmen für den Wiederaufbau des Landes versprochen. Der Kreml wird den Wert des neuen Statthalters wohl auch daran messen, ob davon weniger als "drei Viertel im Nirgendwo" verschwinden, wie der russische Rechnungshof den zwei Mrd. Euro bisheriger Wiederaufbauhilfe seit 2001 bescheinigt hat.