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Dem E-Learning fehlt die "Körperlichkeit"

Von Engelbert Washietl

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Die digitale Revolution hat voll auf den Studienbetrieb zugeschlagen. Aber der Computer versagt, wo das Gedächtnis typisch menschlich funktioniert.


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Die Menschen können gehen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Die Kunst des Gehens ist nicht kognitiv, sondern in uns abgespeichert. Aber ein Laptop, der alles speichert, was er zu fassen bekommt, würde bei der Aufgabe, den menschlichen Gang abzuspeichern, versagen. Was er könnte und auch schon übt, ist das Training von Robotern, die menschlich scheinende Bewegungen nach Programm nachahmen.

Der Autor ist Sprecher der "Initiative Qualität im Journalismus"; zuvor "Wirtschaftsblatt", "Presse" und "Salzburger Nachrichten".

Die Waldviertel Akademie widmete sich vorige Woche bei ihren 28. Sommergesprächen in Weitra der Lebensveränderung durch den Computer, überschrieben mit der Frage "Schöne neue Welt?" An kritischen Beiträgen fehlte es nicht, auch wenn sich niemand in die Vor-Computerzeit zurückwünscht. Eva Horvatic, Medienpädagogin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien, machte darauf aufmerksam, dass der Computer nicht menschlicher wird, sondern sich der Mensch am Computer allmählich zur Maschine degradiere. "Der Mensch wird gleichsam über das Digitale entmündigt."

Ernsthaft? Horvatic setzt dem Computer, der sich angeblich alles merkt, die Tatsache entgegen, dass das menschliche Gedächtnis nicht nur eine neuronale, sondern auch eine kulturelle und soziale Basis hat. Wer etwas aus seinem Gedächtnis aufruft, ruft mit der Erinnerung die dazu gehörigen Zusammenhänge von damals auf. Und wenn er sich später noch einmal erinnert, hat sich die Erinnerung schon wieder verändert. Das Gedächtnis ist kommunikativ.

Die digitale Maschine verändert aber zugleich mit dem Internet die gesamte menschliche Wahrnehmung und das Denken, behauptet Horvatic. Niemand könne voraussagen, wohin die Veränderung führt. Die Studenten, die sich soeben für das neue Studienjahr angemeldet haben, werden mehr denn je auch E-Learning betreiben, weil an der Massenuniversität der klassische Lehrbetrieb durch die von Studenten umgebenen Professoren nicht mehr leistbar ist - so viele Lehrende wären unbezahlbar. Also rufen die Studenten die digitalisierten Bildungspakete mit Codewort aus dem Internet ab und arbeiten sie zu Hause durch. Die Inhalte sind vollständig und vermutlich präziserer als die einstige "Vorlesung" im Hörsaal, aber wiederum fehlt etwas. Horvatic nennt es die "Körperlichkeit". Der Auftritt des Lehrenden, die physische Konfrontation zwischen ihm und den Studierenden werden ausgespart. Die direkte Begegnung wird vermieden, das Potenzial der Körperlichkeit stillgelegt.

Das freilich führt zu Vermutungen, die an den drei Tagen der Waldviertel Akademie auf fast allen Themenfeldern eine Rolle spielte. Verabschieden sich User, vor allem die jungen unter ihnen, vor dem Bildschirm nicht sowieso gern und freiwillig vom menschlichen Gegenüber? Der Computer dient oft als der bequemere soziale Gefährte. Und was mit der Denkfähigkeit geschehen kann, riss der Philosoph Peter Kampits gleich im Eröffnungsvortrag an: "Das ,Cogito ergo sum‘ Descartes, Kants Forderung nach Autonomie und Selbstdenken werden durch Maschinencodes nivelliert."