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Dem Gehirn beim Arbeiten zusehen

Von Eva Stanzl

Wissen
"Gedanken lesen": Gesehenes wird gemessen und mit Computersimulationen so zusammengesetzt, dass eine Wiedergabe des "Gedachten" möglich wird.

Neurowissenschaft steht erst am Anfang.|Forscher beobachten, wie Erinnerung entsteht, und können "Gedanken lesen".


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Wien. Sie wollen das Gehirn nachbauen und das Schmerzgedächtnis löschen. Sie nehmen Emotionen unter die Lupe und suchen die Ursprünge des Mitgefühls: Rund 34.000 Fachteilnehmer besuchen jährlich den Weltkongress für Neurologie. Jede Woche erscheinen mehrere Publikationen in diesem Fachbereich. Neurowissenschafter entschlüsseln, "Was einer Entscheidung vorausgeht", "Wo die Klugheit sitzt" und ob wir Herren unseres Schicksals sind.

Doch jede noch so Schlagzeilen- trächtige Neuigkeit bezieht sich nur auf einen winzigen Teilbereich des Gehirns. Wie viel es noch zu wissen gibt, weiß niemand. "Wir kennen nicht einmal alle Themen, die bei den Neurowissenschaften auf uns zukommen könnten", beschreibt Peter Jonas, der Vorstand des Clusters für Neurowissenschaften am Institute of Science and Technology (IST) Austria in Maria Gugging, seine Arbeit - ein bisschen wie die Entdeckung Amerikas zu Zeiten der Landvermessung eine Pionierarbeit mit ungewissem Ausgang

Erst heute gibt es bildgebende Verfahren, die die Gehirnaktivität darstellen können. Während die länger erforschte Physik mit Theorien aufwarten kann, die Forscher zu bestätigen oder widerlegen suchen, existieren kaum ganzheitliche Thesen in den Neurowissenschaften. "Selbst im Hippocampus, der für Lernfähigkeit und Gedächtnisbildung zuständig ist und der als eine der bestbeschriebenen Gehirnregionen gilt, finden wir ständig Neues", erläutert Jonas: "Eine Antwort eröffnet fünf neue Fragen."

Unter dem Mikroskop liegen die Gehirnzellen einer Maus. José Guzmann untersucht sie auf zwei Bildschirmen in millonenfacher Vergrößerung. "Wir zählen die Synapsen (Verbindungen zwischen neuronalen Zellen) und schauen uns die Dendriten an, die Information im Gehirn übertragen", erklärt der Post-Doc-Student am IST Austria der Gruppe von Journalisten, die an diesem Vormittag das Labor besucht. Guzmann ist einer von derzeit 43 Post-Doc-Studenten, die an dem 2008 gegründeten und als "Eliteuniversität" bekannt gewordenen Forschungsinstitut angestellt sind. Die Computerbilder, die er analysiert und die einen Laien weniger an ein Organ als an eine Mondlandschaft erinnern, zeigen winzige Abschnitte des Hippocampus: "Wenn wir mehr darüber wissen, wie die Verbindungen in dieser Region geschlossen werden, dann verstehen wir besser, wie Erinnerung entsteht."

Kopfgeschirr mit Wolfram-Drähtchen

Ein paar Türen weiter beobachtet Jozsef Csicsvari, wie Ratten lernen. Der Neurowissenschafter und sein Team bringen Elektroden aus Wolfram, so dünn wie ein menschliches Haar, in die Gehirne der Nager ein. Eines der Tiere trägt ein mit einem Computer verbundenes Geschirr mit den Wolfram-Drähtchen am Kopf. Auf einer runden Plattform, die von den Forschern liebevoll "Cheese Board" genannt wird, muss die Ratte einen Zielort suchen. Sobald sie ihn gefunden hat, fällt ein Stück Futter durch einen Schlauch von oben herab. Der Computer misst dabei die Aktivität im Rattenhirn.

"Die Tiere haben im Hippocampus einen kognitiven Plan der Positionen im Raum", erklärt Csicsvari. Zuständig für diese innere Landkarte sind die Platzzellen - Neuronen, deren Aktivität steigt, wenn sich die Ratte an einem bestimmten Ort befindet. Sie lernt, wo Futter ist, obwohl der Ort auf dem "Cheese Board" nicht markiert ist. Die Platzzellen-Aktivität zeigt sich in Form von Kurven auf dem Bildschirm. Mit mathematischen Formeln können die Forscher das Gehirnstrom-Muster umrechnen, sodass sie daraus erkennen, wo sich die Ratte gerade befindet - ganz ohne einen Blick auf das "Cheese Board" zu werfen.

Doch wie festigt sich das Gelernte? Der Hippocampus überführt Information auch aus dem Kurz- in das Langzeitgedächtnis und Erlerntes wird dabei im Tiefschlaf stabilisiert. Csicsvari, den Österreich als Professor von der Universität Oxford abwerben konnte, beobachtet, wie die im Wachzustand erlernten Muster auch im ruhenden Gehirn immer wiederkehren: "Das bildgebende Verfahren lässt dieselbe Region leuchten, wenn die Ratte an das Gelernte im Schlaf ,denkt. Die Häufigkeit, in der das Muster wiederkehrt, ist ein Maß dafür, wie gut die Erinnerung ist." Es lohnt sich also, ausreichend zu schlafen.

Die Neuroforscher können uns jedoch nicht nur im Schlaf, sondern auch im Wachzustand beim Denken zusehen. Und zwar nicht nur Tieren, sondern auch Menschen. Es hat etwas von einem Science-Fiction-Film: Stellen Sie sich vor, sie loggen sich in das Gehirn eines Koma-Patienten ein oder verfolgen jemandes Traum auf einem YouTube-Video. Mit Gehirnstromanalysen, mathematischen Formeln und Computersimulationen können US-Wissenschafter der Universität Berkeley in Kalifornien visuelle Erfahrungen dechiffrieren und auf dem Computer so zusammensetzen, dass auf dem Schirm eine schemenhafte Wiedergabe des Gesehenen entsteht (Fotos oben). Für die Studie haben sich Probanden Hollywood-Filmclips angesehen.

Hilfe für Schlaganfall-

und Wachkoma-Patienten

"Bisher konnten wir nur Filme rekonstruieren, die die Testpersonen angeschaut hatten. Künftig wollen wir auch die inneren Filme wiedergeben, die niemand sieht - wie Träume und Erinnerungen", betont Studienautor Shinji Nishimoto. Dazu müsse allerdings noch besser verstanden werden, wie das Gehirn dynamische, visuelle Informationen verarbeitet.

Über erste Schritte, die innere Stimme hörbar zu machen, berichten Hirnchirurgen und Neurowissenschafter um Brian Pasley von derselben Universität. Die Forscher können aus der Gehirn-Aktivität schließen, was Menschen gerade gehört haben. Die Technik könnte eines Tages Schlaganfall- oder gar Wachkoma-Patienten helfen, wieder zu kommunizieren.

Die Forscher haben 15 Patienten untersucht, die sich wegen schwerer Epilepsie oder eines Hirntumors operieren lassen mussten. Vor solchen Operationen wird den Patienten ein Netz von Elektroden auf das Gehirn gesetzt, um herauszufinden, von wo die Krampfanfälle ausgehen (und somit wo operiert werden muss). Pasley und seine Kollegen maßen dabei auch die Hirnströme über dem Temporallappen, der beim Hören eine wichtige Rolle spielt, während die Probanden fünf bis zehn Minuten lange Sprachbeispiele zu hören bekamen. Die im Gehirn erzeugten Klangbilder waren den Originalworten so ähnlich, dass die Testleiter die Worte richtig erkennen konnten. Obwohl sie nicht wussten, welche Worte genannt worden waren, lag die Treffsicherheit bei 20 bis 30 Prozent. Das ist zwar nicht berauschend, aber mehr als Zufall.

Als "fast sensationell" bezeichnet Jürgen Sandkühler, Vorstand des Zentrums für Hirnforschung der Medizinuni Wien, die Entdeckung. Um "Gedankenlesen" handle es sich dabei allerdings nicht. Vielmehr können "Geübte" aus den Mustern der Gehirnaktivität "nur schließen, was der Proband gerade gehört hat oder gedacht hat. Es ist wie Spuren suchen: Ein erfahrener Spurenleser erkennt, ob die Spuren im Schnee von einer großen schweren oder einer kleinen leichten Katze sind. Deswegen kann aber der Chefredakteur noch lange nicht mitschreiben, was sie gerade denken." Um den Code zu knacken, wie gesprochene Sprache funktioniert, müsse zunächst noch ergründet werden, ob dasselbe passiert, wenn jemand das Wort "Jazz" höre oder "Jazz" denkt. Bis dahin dürfte ein langer Weg bevorstehen.

Forscher der Georgetown University mussten jüngst erkennen, dass sich das Sprachzentrum an einer anderen Stelle befindet als angenommen. Das nach dem Neurologen Carl Wernicke benannte Zentrum liegt nicht hinter dem auditiven Cortex im hinteren Teil der Großhirnrinde, sondern drei Zentimeter weiter vorne und damit vor dem auditiven Cortex. "Die Lehrbücher müssen nun neu geschrieben werden", sagte Studienautor Josef Rauschecker.