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"Dem Kind vorlesen können"

Von Petra Tempfer

Politik
Bücher: Für Analphabeten nicht Quelle für Geschichten, sondern lediglich Papier. Foto: bb

Betroffene auf langen Wartelisten für Deutschkurse. | Leidensdruck der Analphabeten in der Gesellschaft steigt. | Wien. Im Vorübergehen ein Werbeplakat lesen, einen Fahrplan studieren oder einen Beipackzettel überfliegen. Was für viele zum Alltag gehört, stellt für eine beachtliche Menge eine unüberwindbare Hürde dar: Laut aktuellen Schätzungen der Unesco, die sich an den Quoten der Nachbarländer orientiert, können 600.000 erwachsene Österreicher weder lesen, schreiben noch rechnen.


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Das Angebot einer diesbezüglichen Erwachsenenbildung ist aber unausgereift: Interessierte stehen auf langen Wartelisten, und Kurse werden nur teilweise gefördert.

Eine gewisse Sensibilisierung gegenüber Analphabetismus, mit dem auch schwere Defizite beim Lesen, Schreiben und Rechnen gemeint sind, ist dennoch zu merken. 2006 wurde etwa im Zuge des überinstitutionalen Projektes "Basisbildung und Alphabetisierung" das "Alfa-Telefon" ins Leben gerufen. Die anonyme Hotline für Menschen deutscher Muttersprache hilft bei der österreichweiten Kurssuche. "Auffällig ist dabei, dass wir heuer doppelt so viele Anrufer zählen wie vor drei Jahren", berichtet die Koordinatorin Sonja Muckenhuber. Im letzten Quartal klingelte 235 Mal das Telefon.

150 Teilnehmer besuchen derzeit Kurse, die von der Beratungsstelle selbst - mit Sitz in Oberösterreich - angeboten und vom Europäischen Sozialfonds (ESF) sowie dem Unterrichtsministerium gefördert werden. "Zu Beginn des Projektes waren es fünf - jetzt gibt es lange Wartelisten", erklärt Muckenhuber.

Der markante Anstieg sei als Resultat der wachsenden gesellschaftlichen Anforderungen zu werten. "Allein um eine Fahrkarte zu lösen, muss man heute lesen können", präzisiert Muckenhuber, "weil es mehr Automaten als Schalterbeamte gibt." Auch die Zahl der beruflichen Nischen, in denen ein Analphabet unentdeckt bleibt, sei geschrumpft.

Getarnte Deutschkurse

Mit dem erhöhten Leidensdruck schwinde das enorme Schamgefühl, weder lesen noch schreiben zu können, sodass schließlich immer mehr Hilfe suchen. Um diesen keine Blöße zu geben, werde der Deutschunterricht mitunter als "Schönschreibkurs" oder "Kochkurs" getarnt.

"Aus ihrer Unsicherheit heraus täuschen die Analphabeten mit ausgereiften, individuellen Strategien über ihre Schwäche hinweg", berichtet auch Elke Dergovics, die an der Wiener Volkshochschule (VHS) "Alphabetisierung" in der deutschen Muttersprache unterrichtet. Und auch hier einen weit höheren Bedarf ortet, obwohl allein die VHS Floridsdorf zehn Kurse pro Semester anbietet.

"Ausreden wie ,Ich kann das nicht lesen, ich hab meine Brille vergessen, oder ,Ich kann nicht schreiben, mein Arm ist verletzt sind üblich", weiß die Pädagogin. Betroffene wechselten auch häufig ihre Arbeitsstelle - "und zwar immer dann, wenn es brenzlig wird", sagt Dergovics.

Ihr Publikum ist bunt gemischt, das durchschnittliche Alter der Teilnehmer liegt zwischen 35 und 50 Jahren. Deren Ziele sind laut Dergovics unterschiedlich: "Manche wollen einfach nur ihrem Kind aus dem Bilderbuch vorlesen können, andere eine Aufnahmeprüfung schaffen." Nicht allen Analphabeten sind die Buchstaben völlig fremd - die meisten haben laut Markus Riedmayer, Bildungsexperte der Arbeiterkammer (AK) Niederösterreich, lesen und schreiben erlernt. "Durch Nichtgebrauch sind diese Kompetenzen aber verloren gegangen", weiß Riedmayer.

Einige blicken tatsächlich auf eine abgebrochene Schulausbildung zurück. "180.000 Personen in Österreich haben keinen Pflichtschulabschluss", betont Michael Tölle von der AK Wien. Aus diesem Grund appellierte die AK kürzlich an Bund und Länder, zumindest 5000 Abbrechern den Hauptschulabschluss zu finanzieren.

Die Alphabetisierung wird bereits seit 2007 vom Unterrichtsministerium und dem ESF gefördert. So etwa auch ein Abendkurs an der Wiener VHS, der offiziell 1398 Euro kostet und durch die Förderung gratis ist. Der 14-wöchige Intensivkurs wird hingegen nicht finanziell unterstützt. "Das System ist uneinheitlich, und die nächstgelegenen Kurse sind schwer zu finden", kritisiert Riedmayer, "außerdem reicht nicht einmal die Zahl der Erwachsenenbildner aus, um den Bedarf zu decken."

Der Bildungsexperte ruft zu einer groß angelegten Kampagne auf, bei der offensiv an die Analphabeten - etwa in Betrieben oder Schulen - herangetreten werden soll. In Deutschland sei eine solche "Webekampagne" bereits erfolgreich gestartet worden.