Resonanzphänomen erlaubt, sich über 100 Jahre hinweg mit Künstlern zu identifizieren.
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Berlin. Man nehme 114 Versuchspersonen und bitte jede von ihnen, sich insgesamt zehn verschiedene Gemälde nacheinander auf einem Bildschirm genauer anzusehen. Sämtliche Bilder sind gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts entstanden, sind teils neoimpressionistisch und teils postimpressionistisch und ähneln einander in der Gestaltung, in der Wahl der Sujets und in der Wahl und Kombination der Farben. Die Hälfte der Bilder ist allerdings in der Schraffurtechnik in der Manier eines Van Gogh gemalt, die übrigen Bilder sind im Pointillismus-Stil eines Georges Seurat aus lauter Punkten zusammengesetzt.
Nachdem die Probanden die Kunstwerke, die ihnen in zufälliger Reihenfolge präsentiert werden, eingehend betrachtet haben, werden sie aufgefordert, auf einer von eins bis sieben reichenden Skala zu bewerten, in welchem Maße ihnen jedes einzelne gefällt. Doch vorher wird den Versuchspersonen ein Bleistift in die Hand gedrückt, und sie werden in zwei Gruppen aufgeteilt.
Die Mitglieder der einen Gruppe erhalten die Anweisung, beim Betrachten der Gemälde auf einer Schreibtischplatte den Stift so von links nach rechts zu bewegen, als würden sie strichförmig malen. Die anderen Versuchsteilnehmer werden hingegen aufgefordert, mit der Radiergummispitze des Bleistifts so auf die Schreibtischplatte zu tippen, ähnlich den Bewegungen, als würden sie Punkte auf eine Leinwand auftragen.
Außerdem gibt es eine Kontrollgruppe. Ihre Mitglieder sollen dieselben Bilder betrachten und bewerten, aber die entsprechenden Bewegungen mit dem Stift schon fünf Minuten vorher machen.
Der Psychologe Helmut Leder (Institut für Psychologische Grundlagenforschung der Universität Wien) hat dieses Experiment kürzlich mit seinen Kollegen Siegrun Bär und Sascha Topolinski durchgeführt und darüber jüngst in der Fachzeitschrift "Psychological Science" berichtet.
Das Experiment förderte einen erstaunlichen Zusammenhang zutage: Denjenigen Testpersonen, die strichelnde Bewegungen gemacht hatten, gefielen die Gemälde in Strichtechnik im Durchschnitt deutlich besser als die pointillistischen. Und die Testpersonen, die die Bilder im Pointillismus-Stil im Durchschnitt als die schöneren empfanden, hatten bei ihrer Betrachtung ein punktförmiges Malen simuliert. Bei den Versuchspersonen der Kontrollgruppe hingegen bewirkten die simulierten Malbewegungen keine Veränderungen bei den Bewertungen der Gemälde.
Die Spiegelneuronen dürften eine Schlüsselrolle spielen
Helmut Leder hat für dieses Phänomen eine vorläufige Erklärung: Wenn jemand ein Gemälde betrachtet und dabei körperlichen Bewegungen hervorbringt, die denjenigen weitgehend entsprechen, die der Maler seinerzeit beim Auftragen der Farbe auf die Leinwand hervorgebracht hat, kommt es zu einer körperlichen Resonanz - und der Betrachter ist imstande, sich sogar über einen zeitlichen Abstand von 100 Jahren hinweg mit dem Künstler zu identifizieren und sich in ihn hineinzuversetzen.
Möglicherweise spielen hierbei die Spiegelneuronen, die sowohl beim eigenen Handeln als auch bei der Wahrnehmung der Handlungen anderer aktiviert sind, eine Schlüsselrolle. Doch ob diese Annahme zutrifft, muss erst noch experimentell überprüft werden. "Sicherlich haben wir hier aber einen ersten Hinweis darauf, dass der Stil mehr ist als nur das Aussehen von Kunstwerken, sondern auf den Akt des Malens verweist", erklärt Helmut Leder.