)
Die Pandemie hat Demokratien zugesetzt. Umso wichtiger ist eine offene Diskussionskultur - faktenbasiert, lösungsorientiert, respektvoll.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die jüngsten Washingtoner Ereignisse, der Sturm auf das Kapitol, haben aufgerüttelt. Seifenoper oder Spur eines notwendigen systemischen Wandels? Nur noch 25 Prozent der Regierungsformen weltweit sind Demokratien, wie Staffan I. Lindberg, Professor und Direktor des V-Dem Instituts der Universität Göteborg in Schweden einmahnt. Dazu ein paar handfeste Daten und Ableitungen.
Was ist Demokratie eigentlich? Die USA geben sich staatstragend. Eine großartige, berührende Szene geht um die Welt. Ein Eid, der auf eine großartige Verfassung geschworen wird. Aber was heißt Demokratie wirklich? Ein Parforce-Ritt durch eines der umfangreichsten, US-dominerten Fachgebiete zeigt unzählige Theoreme zu liberalem, demokratischem Frieden auf. Mitspracherecht der Vielen, Minderheitenrechte der Wenigen. Gibt es ein Recht auf Demokratie? Letzteres wohl nicht, trotz Vorstößen in der Völkerrechtslehre der 1990er wie etwa Thomas M. Franks Beitrag "The Emerging Right to Democratic Governance" im "American Journal of International Law".

Vielerlei Wurzeln von Demokratie, der Macht, die vom Volk ausgeht, liegen schon in der griechischen Antike, heute relevant sind vor allem die menschenrechtlichen Ausprägungen und die UN-Charta. Dabei muss zwischen Staatsform und Regierungsform unterschieden werden: Nur ein Blick auf transparente inklusive Governance-Modelle mit funktionierender Gewaltenteilung, Rechenschaftspflicht der Regierungsspitze unter breiter Einhaltung des "Rule of Law"-Gebots mit Auswirkungen auf die wirtschaftliche Prosperität gibt Aufschluss auf die Demokratiestärke einer Gesellschaft.
Nun kann man dieser US-amerikanischen, besser demokratischen Think-Tank-Maschinerie vorwerfen, sie sei parteigesteuert. In der Tat sind viele Think Tanks in den USA nicht zuletzt aufgrund der finanziellen Unterstützungen stärker auf Politikberatung als auf unabhängige Forschung ausgerichtet. Auch hierzulande wird wissenschaftlicher Geist nicht selten durch politische Affiliationen eingegrenzt. Aber außer Zweifel steht, dass allgemeines Wahlrecht, Versammlungsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und Freiheit der Medien zu den zentralen Eckpfeilern eines demokratischen Geschehens gehören und nicht die Überwachung durch 17 Millionen Kameras, die in Echtzeit mit Gesichtserkennung jede kleinste Bewegung von Bürgerinnen und Bürgern beobachten können.
Wuhan-Jünger versus antizipatorische Governance
Wenn die internationale Nichtregierungsorganisation Freedom House vor der "Authoritarian Challenge to Democracy" und einem anhaltenden Rückgang demokratisch geprägter Strukturen warnte, war das renommierte Institut im Jahr 2011 noch ein Rufer in der Wüste. Man kann leicht nachvollziehen, wie schwierig es ist, messbare Aussagen zum demokratiepolitischen Zustand einer Gesellschaft zu treffen. Global gesehen sind dafür sowohl eine lückenhafte Datenlage als auch variierende Kriterien verantwortlich, die Falschaussagen nicht leicht widerlegbar macht.
Das demokratiepolitische Pendel bewegt sich zwischen den beiden Polen von Mehrheit und Diversität und hat zuletzt durch polarisierende und zuletzt in den USA über die Schmerzgrenze zentrifugal wirkende Parteipolitik an Attraktivität verloren. So scheint es zumindest. Und der Vorwurf der Handlungsunfähigkeit von Demokratien im Gegensatz zu ihrem autokratischen Pendant konnte in Zeiten der Pandemie rasch die Agenturen erobern.
Ohne Zweifel hat die Pandemie Demokratien zugesetzt: Diskriminierende Praktiken, Missbrauch der Ordnungsgewalt, unbeschränkte Notfallmaßnahmen, unverhältnismäßige Einschränkungen der Rolle der Gesetzgebung, offizielle Desinformationskampagnen und Restriktionen der Medienfreiheit standen an der Tagesordnung. V-Dem von der Universität Göteborg hat dazu eine Datenbasis für vertikale, horizontale und soziale Rechenschaft aufgebaut. Es werden Daten zu Wahlvorgängen, zum institutionellen Gefüge von Staaten sowie zur Wirkungsmacht organisierter Zivilgesellschaft gesammelt. Letztere ist in einer Demokratie bekanntermaßen kostspieliger als in autokratischen Vergleichssystemen.

Laut einer von V-Dem im Oktober 2020 veröffentlichten Studie wurden von März bis September 2020 in 84 Ländern, davon 37 Autokratien und 11 Demokratien, mehr als 30 Prozent der weltweit registrierten Menschenrechts- und Demokratieverletzungen durch die Pandemie schlagend. Das Demokratieforschungsinstitut IDEA in Stockholm schätzt auf Basis des "State of Democracy Report", dass im Schnitt doppelt so viele bedenkliche Maßnahmen in autoritären Regimen wie in Demokratien gesetzt wurden. Trotzdem konnte durch Menschenrechtsverletzungen keine Reduktion der Mortalitätsrate erreicht werden, das kann man kursierenden Erfolgsmythen jedenfalls evidenzbasiert entgegensetzen.
Demokratien unter Druck:Auswege
Was vielfach fehlte, sind Krisenstäbe und informierte Entscheidungsketten, antizipatorische Elemente also. Darüber hinaus - und hier liegt der eigentliche Schaden an der Demokratie - hinterlässt übertriebene Polarisierung Gräben. Zurück zu den USA: Es braucht ein verhandelbares demokratiepolitisches Gleichgewicht und gelebte Kompromissbereitschaft, um das System zusammenzuhalten. Das geriet im Alltagsgetümmel der Social Media tatsächlich in den Hintergrund. Aber wenn Covid-19 ironischerweise Kreativität, Innovation, Digitalisierung, resiliente Netzwerke und ziviles Engagement gebracht hat, gilt natürlich auch hier das Diktum des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres: "Build back better." Autonomie, Würde, Medienfreiheit, Rechenschaftspflicht sind gefragt - und wer könnte das besser bewerkstelligen als Demokratien?
Geopolitische Trends wie aufflammender Nationalismus, Protektionismus und populistische Weltsichten, Vertrauensverlust ins internationale System sowie steigende Desinformation und ein Nebeneinander alternativer Realitäten sind auf dem Vormarsch. Genau diese aufgebrachten Kräfte waren am 6. Jänner auch auf der Mall in Washington unterwegs. Demokratische Institutionen sind jedoch formelle Kodifikationen von Verfahren nicht-gewaltsamer Konfliktlösung. Die Rute im Fenster, das holprige, verfassungsrechtlich interpretationsreiche Impeachment-Verfahren, ist zu diesem Faktum bloß Zubrot. Die Brückenfunktion evidenzbasierter neuer Dialogstrukturen im öffentlichen Interesse wird immer wichtiger. Es geht dabei um die Balance zwischen Politik, Gesellschaft und Wissenschaft, um das Zusammenwirken der Kräfte für ein optimiertes Zukunftsmanagement - und zwar faktenbasiert, lösungsorientiert und respektvoll.
Wir müssen Entwicklungen einordnen und nüchtern bewerten. Gerade in Anbetracht der vielen Last-Minute-Aktionen des scheidenden US-Präsidenten, der heißen Anhörung künftiger Minister und schwelender Verschwörungstheorien der "Aufständischen" grenzt es an eine demokratiepolitische Notwendigkeit, eine offene Diskussionskultur zu Sicherheit, Frieden und Demokratie im Auge zu haben. Deren Basis sind Austausch und Begegnung; unkompliziert, transparent, interdisziplinär und auf akademischem Niveau; mit allen Wissenszubringern, die so eine Debatte braucht. Auch Demokratien passen sich der Zeit an: Meinungsvielfalt ohne ständige Zerreißprobe ist eine zeitgerechte Herangehensweise auf das immer faszinierende demokratiepolitische Experiment auf einem nicht einfachen Boden.