Zum Hauptinhalt springen

Demokratie 4.0

Von Eva Stanzl

Wissen

Nur eine demokratische Gesellschaft kann die Vorteile der Digitalisierung bestens nutzen, sagt der Soziologe Dirk Helbing.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Besser, intelligenter, effizienter, schneller. Selbstfahrend, selbsttätig - smart: Mit Schlagworten wie diesen wird eine digitalisierte Welt beschrieben, in der Algorithmen und Computer fast alle Dinge des Alltags organisieren. Fahrerlose Autos steuern sich und uns perfekt, weil sie freie Straßen wählen und keine Unfälle bauen. Der Kühlschrank ist immer voll, die Milch nie aus, das Klopapier nie alle und die Wohnung immer gesaugt, weil die Haushaltsgeräte wie digitale Hausmädchen alles automatisch nachbestellen und der Staubsauger mehr Initiative zeigt als jeder Putzmann.

So weit die Vision, mit der den Menschen die Modernisierung ihrer Städte verkauft wird - sei es in Barcelona, Madrid, London, Paris, Rom, Helsinki, Graz oder Wien. Sieht man von ein paar Apps ab, die einem die besten Wege mit den Öffis empfehlen, Tipps für Urlaubsreisen und Veranstaltungen verteilen oder unsere Fitness messen, ist im Alltag aber noch wenig davon zu bemerken. Wir fahren immer noch mit dem Auto, zwängen uns durch die U-Bahn, schleppen unsere Einkäufe in Sackerln nach Hause und wenn wir im Internet Kleider bestellen, müssen wir die Pakete irgendwann von der Post abholen. Selbstfahrende Autos ziehen auf Teststrecken ihre Kurven, weil sich das menschliche Handeln mit elektronischen Funktionen, die nicht antizipieren, was uns alles einfallen kann, spießt. Und dennoch fürchtet der Mensch, nicht die Maschine, die allgegenwärtige Überwachung, die die Digitalisierung mit sich bringt.

"Der Mensch ist nicht perfekt modellierbar, er kann sich jederzeit zu einer Dummheit hinreißen lassen. Systeme der Zusammenarbeit von Mensch und Maschine bergen daher ungeheuerliches Potenzial für Chaos", warnt Georg Brasseur, Professor für Elektrische Messtechnik der Technischen Universität Graz. Seiner Einschätzung nach werde die Technik der Vision frühestens in 20 Jahren das Wasser reichen können, betonte er einleitend zur Jahrestagung des Instituts für Technikfolgenabschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften diese Woche in Wien.

Dort widmeten sich Experten einer kritischen Auseinandersetzung mit der "Smart New World". "Unsere Aufgabe ist es, dem Hype nicht auf den Leim zu gehen", beschrieb es ITA-Direktor Michael Nentwich. Denn neben mehr Freiheiten und Möglichkeiten, mehr Effizienz und einer in vielerlei Hinsicht reicheren Welt verspricht die Digitalisierung auch genau das Gegenteil: totale Überwachung, wachsende Arbeitslosigkeit, Unterdrückung und Ungleichheit. Was mit dem Monitoring der körperlichen Fitness über das Handy beginnt, könne in günstigeren Versicherungsprämien, besseren Kreditbedingungen und neuen Klassengesellschaften enden, erklärte Dirk Helbing, Professor für Computational Social Sciences an der ETH Zürich. Blindes Vertrauen auf die Heilsversprechungen von intelligenten Technologien berge die Gefahr, dass demokratische Werte, die über Jahrhunderte aufgebaut wurden, verloren gehen.

Schon heute werden Google-Anfragen, Facebook-Posts und alle Wege, die jeder mit dem Smartphone in der Tasche zurücklegt, gespeichert. "Leider sind wir weit davon entfernt, Big Data zu verstehen und immer die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen", sagte Helbing. Der Soziologe und Komplexitätsforscher präsentierte Details, die Angst machen. "Manche IT-Unternehmen versuchen, uns Menschen abzurichten, wie Pavlov seine Hunde. In alle Richtungen werden wir gestupst, damit wir bestimmte Dinge tun oder lassen. Das tut zunächst nicht weh, hemmt aber echte Kreativität - und führt letztlich zur Diktatur."

Schubsen und Stupsen

Regierungen verfolgen seit einigen Jahren einen Ansatz, der vor allem im angelsächsischen Raum als Zauberformel des Bürgermanagements gilt: "Nudging" (deutsch: schubsen, stupsen) heißt eine paternalistische Methode, der die Erkenntnis zugrunde liegt, dass Menschen weniger durch Verbote oder Strafen abgeschreckt, als mit kleinen Psychotricks gesteuert werden können. Wenn Jugendliche mehr Obst essen sollen, sollte dieses in der Vitrine der Schulkantine ganz vorne liegen. Sollen Konsumenten Produkte kaufen, stehen diese am besten beim Eingang.

Offensiver ist "personal pricing", wonach niemand den gleichen Preis für das gleiche Produkt bezahlt und Sonderangebote während des Einkaufsbummels über Apps eintrudeln. Und nachgerade diktatorische Züge hat ein Tool aus China, die das Gesamtverhalten in ein digitales Raster presst. Die Online-Konzerne Alibaba und Tencent, Marktführer im Internet, haben im Vorjahr eine App aufgelegt, die Punkte für sozial erwünschtes Benehmen vergibt. Ab 350 Punkten geht es los, ab 600 gibt es günstige Kredite und ab 750 mit einem Trip in die EU sogar Reisefreiheit. Der britische Geheimdienst steht dem Reich der Mitte aber um nichts nach. Laut Berichten des Enthüllers Edward Snowden plant London die weltgrößte Überwachungsmaschine. Sie soll der Polizei Prognosen über das künftige Verhalten der Bürger erlauben - womit die Freiheit auf dem Altar eines hellsichtigen Big Brother stirbt.

Für Helbing sind dies allesamt gesellschaftliche Ansätze, die schnurstracks in die Katastrophe führen. "Die Überwachung erzeugt ein Machtsystem, das nicht angemessen ist, um komplexe Gesellschaften, wie wir sie heute in allen Industrienationen haben, zu Entfaltung und Erfolg zu verhelfen", hebt der Soziologe im Interview mit der "Wiener Zeitung" hervor: "Statt die gesellschaftlichen Probleme zu lösen, sehen wir eine zunehmende Polarisierung."

Um den Herausforderungen der Digitalisierung zu begegnen, sei eine partizipative, pluralistische Gesellschaft nötig, wo die Bürger über ihre eigenen Daten verfügen und gemeinsam eine kollektive Intelligenz erzeugen können, anstatt dass Großkonzerne sie kontrollieren. "Ich möchte nicht, dass Google bestimmt, wie ich die Welt zu sehen habe, sondern dass ich zwischen Algorithmen wählen und sie selbst konfigurieren und teilen kann, sodass eine Vielfalt von Sichtweisen entsteht. Die Welt ist so komplex, dass eine einzige Perspektive nie ausreicht, um die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen", sagt Helbing.

Er erinnert an die Erfolgsprinzipien der Demokratie. "Demokratie ist das Ergebnis eines evolutionären Prozesses, zu dem es kam, weil andere Ansätze nicht funktionierten. Ihr Erfolg beruht letztlich auf Pluralismus und Diversität. Optionen ermöglichen eine kombinatorische Entfaltung der Gesellschaft", erklärt der Soziologe. Er spricht damit genau jene Fähigkeit an, die Lebewesen an die Spitze der Evolution katapultiert: "Diversität ist die Grundvoraussetzung für Innovation, kollektive Intelligenz und die gesellschaftliche Fähigkeit, mit unerwarteten Situationen zurechtzukommen."

Neuauflage durch Beteiligung

Jede Lösung funktioniert so lange, bis sie dem technologischen, demografischen, klimatischen oder kulturellen Wandel nicht mehr gerecht wird. Dann bedarf es neuer Ansätze. Diktaturen fehle die nötige Pluralität, um flexibel reagieren zu können - Scheitern sei vorprogrammiert, weiß der Koordinator der "Futur-ICT-Initiative" der EU, die globalen Problemen wie Klimawandel und Ressourcenmangel mit den Möglichkeiten einer digitalen Gesellschaft lösen will.

Es bleibt das Heute einer Welt im Wandel - mit Überwachung, einem Marktplatz im Internet, der kein Geschäftsmodell für alle bietet, und jeder Menge Mobbing in sozialen Medien. "Die jetzige Phase der Digitalisierung hat nicht zu mehr Wohlstand für alle geführt", sagt Helbing: "Die Welt steht an der Kippe. Und wenn es gut ausgehen soll, müssen wir handeln. Wir müssen ein Upgrade der Demokratie zugunsten der Bürger-Beteiligung vornehmen, sonst werden wir dieses hart errungene Erfolgssystem verlieren." Und mit ihm das Recht, das jeder Mensch in demokratischen Staaten hat auf sein kleines, persönliches Glück.