Unsere Stimmen sind heiß begehrt. Parteien und Politiker buhlen um jeden Wähler. Aber wen weshalb wählen? Schließlich steht viel auf dem Spiel, entscheiden in einer Demokratie die Wähler doch über den grundsätzlichen Kurs des Gemeinwesens. Politik ist jedoch eine komplizierte Sache, und mündige Staatsbürger fallen nicht vom Himmel. Interesse für Politik muss erst geweckt, komplizierte Zusammenhänge erläutert und Entscheidungsabläufe vermittelt werden. Diese Aufgabe lässt sich nicht allein auf die Schule abwälzen, im Gegenteil: Politische Bildung geht uns alle an.
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Die Zeiten, als Österreich in festgefügte politische Blöcke aufgeteilt war, sind heute längst vorbei. War früher der Typus des Wechselwählers eine praktisch unbekannte Spezies, stellt er heute, vor allem im urbanen Bereich, den Regelfall dar; sogenannte Stammwähler einer Partei sind dagegen massiv vom Aussterben bedroht.
Durch diesen Prozess verloren auch die traditionellen Vermittler von Politik wie Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Kirche oder Familie ihren Einfluss. Heute haben die Medien fast ein Monopol auf die Vermittlung von Politik. Die Logik der Medien sucht aber nach Bildern, raschen Informationen und einfachen Lösungen. Damit steht nicht länger das "Was" von Politik im Mittelpunkt, sondern das "Wie".
Zu dieser Medienlogik steht jedoch der tatsächliche Ablauf von Politik im Widerspruch: Dieser wird zunehmend komplexer, unübersichtlicher und schwerfälliger. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt bis zu jenem berühmten Satz eines ehemaligen Kanzlers: "Es ist alles so kompliziert."
Auch der Begründungs- und Rechtfertigungsbedarf für Parteien wie Politiker ist gestiegen. Nichts bleibt mehr unhinterfragt, "heilige Kühe" sind passé, bohrende Fragen von Bürgern und Journalisten an Politiker aller Stufen nicht länger Majestätsbeleidigung.
Um in diesem verworrenen Dunkel den Durchblick zu bewahren, braucht es mündige Bürger. Diese fallen aber nicht vom Himmel. Schließlich hat, wie ein geflügeltes Wort weiß, jedes Volk die Politiker, die es verdient bzw. die es wählt. Aufgabe der politischen Bildung ist es, die Bürger mit den grundlegenden Demokratiekompetenzen auszustatten. Kann die Schaffung reflektierender Zuschauer als Minimalziel politischer Bildung bezeichnet werden, so besteht ihr eigentliches Ziel im interventionsfähigen Bürger.
Zur Demokratiekompetenz des Bürgers gehört in erster Linie die Bereitschaft und die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme am politischen Prozess. Ob diese Teilnahme nun intensiv und selbstlos sein muss oder gemäßigt und eigennützig sein darf, ist zwischen einem republikanischen und einem liberalen Politikverständnis strittig. Die empirische Politikwissenschaft bestätigt weitgehend die liberale Vorstellung, nach der die eigenen Interessen beim politischen Engagement im Vordergrund stehen. Auch warnt sie vor zu hohen Erwartungen an das politische Engagement der Bürger.
Diese Ziele zu erreichen, überfordert jede Einrichtung, lässt man sie mit dieser Aufgabe allein. Trotzdem kommt natürlich den Schulen eine besondere Bedeutung bei der politischen Bildung zu. Umstritten ist allerdings, ob hierzulande das Projekt politischer Bildung an Schulen als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden kann. Nicht selten wird ja in ausschweifenden kulturpessimistischen Klagen das mitunter bescheidene Niveau des politischen Diskurses mit dem geringen Stellenwert politischer Bildung in Verbindung gebracht. Eine nun veröffentlichte Studie des Instituts für Psychologie der Universität Wien bescheinigt jedenfalls dem Unterrichtsfach "Politische Bildung", das an Berufsbildenden Schulen verpflichtend ist, nur wenig Effizienz. Es habe sich gezeigt, dass hier das Lehrziel, "Jugendliche zu mündigen, demokratischen Bürgern zu entziehen", nicht erreicht werde.
Die Studie verweist aber auch auf Unterschiede zwischen den verschiedenen Schultypen und konzediert etwa Gymnasiasten eine höhere demokratische Kompetenz und höheres politisches Interesse. Im Gegensatz zu Berufsbildenden Schulen wird an AHS "Politische Bildung" nicht als Pflichtgegenstand, sondern als Unterrichtsprinzip vermittelt.
Einem pauschal negativen Urteil will sich Heinrich Neisser, Politikwissenschafter und ehemaliger Zweite Nationalratspräsident, nicht anschließen. Er sieht auch keinen Zusammenhang zwischen dem in der Vergangenheit gängigen Proporzprinzip bei der Besetzung von Schuldirektoren und der oftmals geringen Bereitschaft von Lehrern, das Thema Politik im Unterricht anzusprechen, da "alle politischen Parteien eigentlich Interesse an einer funktionierenden politischen Bildung haben müssten".
Neisser sieht das Engagement und die Qualifikation der Lehrer als entscheidend für den Erfolg politischer Bildung an. Es sei auch notwendig, die Zusammenhänge zwischen Europa- und Innenpolitik verstärkt aufzuzeigen. Vor allem um die Qualifikation scheint es jedoch nicht zum besten zu stehen: Von den rund 120.000 Lehrern haben nicht einmal zwei Prozent einschlägige Fortbildungskurse besucht.