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Demokratie in der Krise?

Von Rudolf Bretschneider

Gastkommentare

Populismus: ein Symptom, nicht die Ursache der Demokratiegefährdung.


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Die Studien zum Thema Demokratie häufen sich. Das kann man als Zeichen von Besorgnis sehen oder als notwendige Arbeit zur Stärkung ihrer Entwicklung. Leider liefern die empirischen Befunde keine eindeutigen Handlungsanleitungen, selbst wenn man nur die österreichischen Daten betrachtet. Die kürzlich erschienene "Wertestudie" (Uni Wien, Daten aus 2018) zeigt ein steigendes Institutionenvertrauen und hohe Zufriedenheit mit der Art, "wie das politische System in Österreich derzeit funktioniert". Das Center for the Future of Democracy (Uni Cambridge), das Einstellungen zur Demokratie seit 1973 verfolgt, sieht weltweit zunehmende Demokratiemüdigkeit, die auch für die jüngeren Generationen kennzeichnend sei.

Selbst wenn manche Behauptungen bezweifelbar sind - aufgrund detaillierterer lokaler Befunde aus dem heurigen Jahr -, so ist das Gesamtbild, das Populismus als Symptom und nicht als Ursache der Demokratiegefährdung ansieht, beunruhigend. Gründe zur Sorge sehen auch die Autoren einer Arbeit für die Gesellschaft für Europapolitik und den slowakischen Thinktank Globe Sec (Österreich und neun Länder Osteuropas) in der verbreiteten Anfälligkeit für Verschwörungstheorien und Ängste vor einer "Gefährdung der Identität und der Werte". Zu all dem häuften sich in den Krisen der 2000er Jahre die Analysen zu "gesellschaftlichen Spaltungen", "mangelndem Zusammenhalt" und "Populismus" sowie die teilweise gewaltigen Veränderungen im Parteienspektrum und das Aufkommen neuer Bewegungen (inklusive "Gelbwesten").

Dass die Demokratie oft eine kritische Nachrede, ja einen dubiosen Ruf hat, ist nicht neu. Übel beleumdet war sie auch im alten Athen und ist nach ihrer viel zitierten Blütezeit auch für viele Jahrhunderte als Regierungsform verschwunden. Ihre Weihe erhielt sie in Kontinentaleuropa erst mit der Französischen Revolution, aber der Begriff Demokratie behielt auf den Britischen Inseln noch bis ins späte 19. Jahrhundert oft eine ziemlich abwertende Bedeutung bei (siehe Luciano Canfora: "Eine kurze Geschichte der Demokratie", Köln 2018).

Kein Demokratie-Urmodell

Demokratische Gewohnheiten haben ihre Wiege wahrscheinlich nicht in Griechenland allein. Demokratische Organisationsformen (gemeinsame Beratschlagung und Entscheidung, Kontrolle und Einspruch) finden sich auch in vielen anderen alten Gesellschaften, die von Athen nichts wissen konnten. David Stasafage analysiert in "The Decline and Rise of Democracy" (Princeton 2020) auch begünstigende Bedingungen für die Entstehung derartiger demokratischer Organisationsformen: Nähe der Beteiligten, wenig Bürokratie, unregelmäßige Produktion, Möglichkeit des "Wegewanderns".

In einer modernen Massendemokratie herrschen freilich andere Bedingungen. Ganz zu schweigen von der Situation in multinationalen Gebilden: große Distanzen, viel Bürokratie, schnelle Politik. Viele Prozeduren sind nötig, um die Herde zusammenzuhalten, das Vertrauen ins demokratische Politiksystem zu stärken und es gegen Versuchungen zu immunisieren. Einer dieser Versuchungen widmet der Historiker Pierre Rosanvallon sein neues Buch "Das Jahrhundert des Populismus" (Hamburg 2020). Er betont hier, wie auch in seinem vielbändigen Werk zu Fragen der Demokratie, dass es für diese kein Urmodell gebe. Weder in Paris noch in den USA oder im alten Griechenland. Er beschreibt die "Unbestimmtheit der Demokratie". Weil sie eine Freiheitserfahrung begründe, sei die Demokratie "eine problematische Lösung für die Errichtung eines Gemeinwesens freier Menschen geblieben".

Wahlen als "Episoden"

Rosanvallon verweist auf die zwangsläufig auftretenden Probleme und Widersprüche, auf die Gefahr einer Tyrannei des Gemeinwillens, auf die Fallen plebiszitärer Verfahren, auf die Schwierigkeiten von Repräsentation in pluralen Gesellschaften. Kritisch sieht er die Rolle von Wahlen als oft alleinigen Ausdruck demokratischen Lebens. Sie bleiben notgedrungen "Episoden" und unklarer Ausdruck schwankender Wählerpräferenzen. Diese verändern sich ja erfahrungsgemäß innerhalb einer Legislaturperiode und können auch nicht als Ausdruck eines bestimmten Koalitionswunsches verstanden werden.

Populismus ist für Rosanvallon ein Grenzfall einer demokratischen Form. Geschichtliche Vorbilder gibt es dafür reichlich. Daher ist es auch nicht schwer, gewisse Merkmale aufzuzeigen, die sich in alten und neueren Populismen mit einiger Regelmäßigkeit wiederfinden: die Benutzung eines vagen Volksbegriffs; die grobe Unterscheidung zwischen "wir" und "sie" (auch in samtenen und singenden Revolutionen); ein Nationalprotektionismus; eine fantasierte Verkörperung des Volkswillens in einer politischen Führung; aggressive Parolen gegenüber "Eliten" ("Haut ab!" - ein Fluch, der sich sinngemäß auch in sogenannten seriösen Medien und nicht nur in Sozialen Netzwerken findet).

Rosanvallon gibt eine gründliche Analyse der alten und neuen Populismen, denen er durchaus auch eine positive Funktion zuerkennt: zum Beispiel gewisse Widersprüche und Mängel im jeweiligen demokratischen System sichtbar zu machen. Das Ziel des Autors ist es, "neue Ausdrucksformen, Verfahren und Institutionen einer demokratischen Gesellschaft zu potenzieren". Die Wahrheit der Demokratie liege nicht in der vermeintlichen Perfektion einer ihrer Modalitäten, sondern in der Addition all der für sich genommen unvollkommenen Modalitäten, die man zu ihrer Formgebung in Betracht ziehen könne. Demokratie sei von Natur aus experimentell.

Sich selbst hinterfragen

Er bringt dazu auch Vorschläge für eine Potenzierung der Ausdrucksformen: etwa durch eine "interaktive Demokratie" mittels permanenter Konsultations- und Rechenschaftsmethoden; durch Vermittlung besseren Wissens übereinander (in der Gesellschaft); durch hohe Servicequalität von Institutionen (Kundenorientierung); durch Verständlichkeit der Politik ("Lesbarkeit"). Demokratie sei primär "das System, das nicht aufhört, sich selbst zu hinterfragen". Diese Bemühungen sind von vielen zu leisten, nicht nur von "der" Politik, deren Repräsentanten, oft sogar mit bester Absicht und unter freudiger Mitwirkung vieler Medien, an Vertrauensschwund und Wachstum des Missvergnügens arbeiten.

"Wir kommen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war", hat Albert Schweitzer einmal geschrieben. Diese Art der Schwächung bedroht immer auch demokratische Strukturen. "Nicht Skythen und Chazaren (...) bedrohen unsere Welt (...) aus eig’nem Schoß ringt los sich der Barbar", schreibt Franz Grillparzer. Vielleicht sollten Abgeordnete, statt einander bei jeder (un)passenden Gelegenheit "undemokratisches Verhalten" vorzuwerfen, einmal einen Ausschuss zur Untersuchung demokratischer Innovationen zusammenstellen und Menschen vorladen, denen sie vertrauen. Vorschussmisstrauen gibt es bereits genug.