Europas Abhängigkeit von russischem Erdgas und die Rolle des Ernährungssystems in der aktuellen Krise.
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Die Krisen des vergangenen Jahrzehnts wirkten für viele Menschen hierzulande so, als wären sie wie aus dem Nichts hereingebrochen. Das Gefühl, Bedrohungen ungeschützt ausgesetzt zu sein, trieb viele in die Hände rechtsextremer Strömungen und machte zugleich den rechten Extremismus zur neuen politischen Mitte. Obwohl vor den wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Ursachen für diese Krisen seit Jahrzehnten gewarnt worden ist (der Bericht "die Grenzen des Wachstums" an den "Club of Rome" erschien vor genau 50 Jahren im März 1972), haben sie sich seither noch verschärft.
Vor diesem Hintergrund stellen die inzwischen entschlossene Unterstützung der Ukraine durch die EU und ihre einhelligen Wirtschaftssanktionen auch Grundfeste der Wirtschafts- und Lebensweise hierzulande infrage, wie sich am Beispiel Erdgas zeigt. Viele fordern nun den Stopp von Erdgasimporten aus Russland, die den Krieg finanzieren. Doch reagiert die EU auf diese Forderung zögerlich. Als wäre nicht schon vor Jahrzehnten klar gewesen: Die Abhängigkeit von russischem Erdgas widerspricht der notwendigen Energiewende und birgt ein hohes politisches Risiko für die Mitgliedsländer der EU.
Die strukturelle Blindheit gegenüber den tieferen Ursachen und Verflechtungen der weltweiten Krisendynamiken ist der Grund, warum – allen Warnungen zum Trotz – keine tiefgehende sozial-ökologische Transformation stattfindet. So unterstreicht der jüngste Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) erneut, dass fossile Ressourcen rasch ersetzt werden müssen, um die Klimakatastrophe einzudämmen. Doch zugleich stoßen Meldungen über ein drohendes Abbrechen des Thwaites-Gletschers in der Antarktis auf taube Ohren, obwohl ein deutlicher Anstieg des Meeresspiegels auch Europa direkt betreffen wird. Davon unbeeindruckt bleibt die sogenannte Versorgungssicherheit mit Erdgas vorrangig.
Nicht nur die Klimapolitik und die Unterstützung der Ukraine stehen mit dem fortgesetzten Verbrauch von Erdgas in offenkundigem Widerspruch, die globale Verflechtung und fossile Abhängigkeit unserer gesamten Wirtschafts- und Lebensweise zeigt sich auch im Ernährungssektor. Aufgrund eines agrarindustriellen Exportmodells von "cash crops", von dem auch westliche Investoren profitieren, sind Russland und die Ukraine weltweit führende Agrarexporteure. Dieses Modell beruht auf einer extrem ungleichen Land- und Machtverteilung, wodurch die bäuerlichen Höfe verdrängt und Armut vertieft werden.
Allein schon die Sanktionen gegen Russland und die Zerstörungen in der Ukraine haben schwerwiegende Auswirkungen auf die industrielle Landwirtschaft und werden, erstens, zunächst dazu führen, dass die Brotpreise weiter steigen. Einige Länder wie zum Beispiel Ägypten, deren Grundversorgung von Getreideimporten abhängt, werden davon wahrscheinlich besonders hart getroffen werden. Vor allem bei ärmeren Haushalten ist zudem der Anteil für Ernährungsausgaben strukturell hoch.
Zweitens benötigt die industrielle Landwirtschaft Erdgas für die chemische Herstellung von Stickstoffdünger. Sie braucht zudem Erdöl für die Produktion von Pestiziden sowie zum Betrieb von landwirtschaftlichen Maschinen. Die Sanktionen werden vermutlich auch den steigenden Erdölpreisen zusätzlichen Auftrieb geben und vor allem den Druck auf die ärmeren Haushalte verschärfen.
Drittens wird der Konflikt auch Einfluss auf die heimische Versorgung mit Eiweißfuttermitteln aus Sonnenblumen, Raps oder Soja für Rinder-, Schweine- und Geflügelmast haben, da mehr als zwei Drittel des in Europa erzeugten Sojas aus Russland und der Ukraine stammen. Die Ukraine ist damit ein unverzichtbares Partnerland bei der Donau-Soja Initiative, die eine Alternative zu den Importen von gentechnisch veränderten Eiweißfuttermitteln aus Lateinamerika bieten will.
Spätestens die Hungerkrise 2008 hatte deutlich gemacht: Die Abhängigkeit der industriellen Landwirtschaft von fossilen Ressourcen und die fehlende lokale Ernährungsbasis vieler Regionen treiben den Klimawandel voran und unterminieren die Ernährungssicherheit. Mit der Verteidigung der Ukraine erhalten die dringend notwendige Abkehr von industrieller Landwirtschaft und die parallele Demokratisierung des Ernährungssystems weitere Dimensionen. Kleinbäuerliche Betriebe sowie die Konsumentinnen und Konsumenten, darunter vor allem die politisch marginalisierten ärmeren Haushalte, lokale Verarbeitungsunternehmen und Versorgungseinrichtungen sowie Klima- und Naturschutz brauchen viel stärkere Mitbestimmungsrechte, wenn es um die Produktion und die Verteilung von Lebensmitteln geht.
Auch mit Blick auf das Ernährungssystem könnte sich die Geschichte der Krisen der jüngeren Vergangenheit wiederholen, wenn deren strukturelle Ursachen nicht durch Demokratisierung überwunden werden. Eine wirksame Gegenwehr in der Ukraine hängt nämlich auch davon ab, dass die Menschen in der EU die Sanktionen auf Dauer mittragen. Es steht zu befürchten, dass die extreme Rechte und ihr Einzugsbereich, den die "Corona-Proteste" erweitert haben, versuchen werden, die Sanktionen zu unterminieren. Die Gelegenheit dazu wird kommen, wenn die ärmeren Haushalte darunter zu leiden beginnen.
Wie schon nach der Finanzkrise, der Flüchtlingskrise und dem Beginn der Pandemie werden diese Kräfte alles nützen, um daraus eine politische Gegenposition zur notwendigen Transformation aufzubauen. Darüberhinaus wittert die Lobby der EU-Agrarindustrie auf Kosten von Biodiversität und Klima bereits die Chance für ein "roll back" des "Green Deal" und der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), die eine Transformation der Landwirtschaft unterstützen.
Die rasche Umstellung auf lokale Lebensmittelversorgung, schonende Produktionsmethoden in der Landwirtschaft, und eine demokratische Gestaltung des Lebensmittelsystems sind unumgänglich. Ärmere Haushalte müssen sozial unterstützt werden, gegebenenfalls auch durch Maßnahmen der Rationierung knapper Güter. Und besser gestellte Gruppen müssen erkennen, dass die sozial-ökologische Transformation auch in ihrem Interesse ist, auch wenn dies eine systematische Umverteilung erfordert, von Profiten hin zu Löhnen, sozialen Infrastrukturen und Sozialleistungen, um die enorme Schieflage in der Verteilung des gesellschaftlichen Vermögens zu korrigieren.
Um aus dem permanenten Krisenmodus herauszukommen, muss die Politik diese sozial-ökologische Transformation rasch unterstützen und nicht nur "kurzfristig" nach "neuen Quellen" für den Ersatz von Erdgaslieferungen aus Russland Ausschau halten. Die Antwort auf globale Probleme muss freilich ebenso lokal wie weltweit erfolgen. Neben der entschlossenen Abwehr aller Versuche, demokratische Strukturen zu zerstören, sind daher neue globale Vorbilder für ein gutes Leben aller essenziell.
Die Möglichkeit, über die Art des Ernährungssystems mitzuentscheiden, ist dabei ein wesentlicher Bereich. Demokratie muss auf das Ernährungssystem hin erweitert werden. Das unterstützt nicht nur unmittelbar nötige politische Strategien, sondern bietet den Menschen in Russland, der Ukraine und in allen anderen Ländern der Welt eine echte Perspektive, die auch klimapolitischen Erfordernissen Rechnung trägt.