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Demokratieforscher: "Prinzipiell traue ich unseren Staaten"

Von Walter Hämmerle

Politik

Politologe Wolfgang Merkel: Die Demokratie hat die Krise bisher gut überstanden, aber Gefahr lauert.


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Gefährdet das Virus die Demokratie? Diese Frage diskutieren am Donnerstag (19 Uhr, Livestream www.wienerzeitung.at/demokratie! ) auf Einladung von "Wiener Zeitung" und Sora Institut der Politikwissenschafter Wolfgang Merkel und die Demokratieforscherin Tamara Ehs.

Die "Wiener Zeitung" sprach im Vorfeld mit Merkel über die Rolle von Experten in der Corona-Krise, Politik mit Angst, warum Südkorea, Japan und Co kein Vorbild für Europa sein sollen und die Gefahr einer dauerhaften Marginalisierung der Parlamente.

"Wiener Zeitung": Hat sich Ihr Blick auf den Staat - persönlich wie auch in Ihrer Rolle als Demokratieforscher - durch die Corona-Krise verändert?Wolfgang Merkel: Nein, das wäre zu scharf formuliert. Ich habe zwar Kritik, aber das ändert nichts an meinem grundsätzlichen Vertrauen in gut funktionierende Staaten wie Deutschland und Österreich. Verwundert hat mich aber doch, dass Grundrechte relativ einfach per Gesetz oder Verordnung außer Kraft gesetzt werden können.

In Österreich wird über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft diskutiert. In Schweden war das Krisenmanagement bis vor kurzem Sache des Staatsepidemiologen, in Deutschland spielt das Robert-Koch-Institut eine zentrale Rolle, in Österreich geben Bundeskanzler und Gesundheitsminister den Ton an. Welches Modell bevorzugt der Demokratieforscher?

Das politischste, also das österreichische Modell. In Schweden hat man bisher einen Weg beschritten, der erstaunlich freiheitlich war; erstaunlich deshalb, weil er Individualrechte über ein wie auch immer zu definierendes Gemeinwohl stellte und dies die Regierung auch dann nicht irritierte, als sie mit überdurchschnittlich hohen Todesraten konfrontiert wurde. Obwohl ich ansonsten große Sympathie für das skandinavische Demokratiemodell hege, hat mir hier die kritische Auseinandersetzung gefehlt. Auf der anderen Seite steht Deutschland, wo anfangs verunsicherte politische Eliten nicht wussten, wie es weitergehen solle und sich dann für das Modell evidenzbasierter Politik entschieden. Nur ist hier ein naives Bild von Wissenschaft und Politik entstanden. Es ging davon aus, dass "die" Wissenschaft die Wahrheit verkünden würde, die anschließend nur umgesetzt werden müsse. Dieses erstaunlicherweise unpolitische Denken kennen wir aus der Klimabewegung. Anders als in der Klimapolitik und in Schweden hat sich die Politik in der Corona-Krise jedoch entschieden, bei der Auswahl der Wissenschafter auf jene zu setzen, die eher pessimistischste Szenarien entworfen haben.

Warum, glauben Sie, hat die deutsche Politik so reagiert?

Hier steckt die Angst dahinter, am Ende für die befürchteten hohen Opferzahlen verantwortlich gemacht zu werden. Die deutsche Regierung hat sich deshalb am "Worst Case" orientiert. Damit hat sie sich gegen Kritik abgesichert und konnte dies zu Recht als verantwortungsvolles Handeln kommunizieren. Auch Österreichs Regierung hat auf eher pessimistische Experten gehört. Es hatte aber den Vorteil, dass das Land über eine veritable Opposition in der Krise verfügte. In Deutschland dagegen dankten die Grünen als wichtigste Oppositionskraft im Parlament ab. Das führte zu der paradoxen Situation, dass ausgerechnet die halb-demokratische AfD den autoritären Kurs der Regierung kritisierte, obwohl sie selbst einen viel größeren Rucksack an autoritärer Politik mit sich schleppt. Das Problem in Deutschland war zu wenig Debatte, zu wenig Transparenz und Deliberation im Parlament.

Sie haben den Faktor Angst angesprochen. Bundeskanzler Sebastian Kurz wird kritisiert, dass er im Frühjahr, also zum Zeitpunkt höchster Unsicherheit und Verunsicherung, gesagt hat, dass bald jeder jemanden kennen werde, der an Covid-19 gestorben sein werde. Kurz habe mit der Angst Politik gemacht. Teilen Sie diese Kritik?

In gewissem Sinne ja. Aber in Zeiten hoher Unsicherheit und geringer Kenntnis werden Entscheidungen von Politikern häufig risikoavers ausfallen. Ausnahmen von dieser Regel sind machistische Populisten wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro, die aus politisch-kulturellen Gründen auf Risiko gesetzt und die Gefahren des Virus geleugnet und kleingeredet haben. Ich mache deshalb weder der österreichischen noch der deutschen Regierung für die Anfangsphase den Vorwurf, mit rational begründeter Angst regiert zu haben. Später hätten sie aber angstfrei und überzeugender kommunizieren müssen.

Wo lagen die Fehler im Sommer?

Wir haben nach dem Frühjahr nicht darüber diskutiert, wie wir aus dieser außergewöhnlichen Phase der Notstandsmaßnahmen herauskommen und diese im Nachhinein re-demokratisieren können. Stattdessen sind wir in die zweite Welle hineingestolpert. Anschließend haben die Regierungen die Strategie vom Frühjahr wiederholt, mit schnellen und intransparenten Entscheidungen am Parlament vorbei zu regieren. In Deutschland lief das so ab: Zunächst haben sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten in einem informellen Gremium "geeinigt", erst danach wurde im Parlament debattiert. In Demokratien hat das umgekehrt zu sein. Einziger Vetospieler waren die Verwaltungsgerichte, die, obwohl gar keine demokratische Institution im klassischen Sinn, in dieser Lage die Rolle als Hüter der demokratischen Verfassung gegenüber der Exekutive eingenommen haben.

Im Unterschied zu Europa und den USA haben die ostasiatischen Demokratien Südkorea, Taiwan und Japan die Pandemie mit großer Disziplin und dem massiven Einsatz digitaler Hilfsmittel erfolgreich bekämpft. Taugen diese Staaten als Vorbild für Europa?

Wir unterscheiden uns zweifellos durch Heterogenität und Pluralismus. Noch wichtiger ist aber, dass unsere Gesellschaften ihrem Wesen nach liberal und individualisiert sind, während in Südkorea, Taiwan und Japan ein anderes Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft besteht. Zum Teil liegt das an kulturellen Traditionen wie dem Konfuzianismus, die wir, selbst wenn wir wollten, nicht importieren könnten. Auch von oben vorgegebene Regeln werden hier freiwillig befolgt, solange dahinter ein Gemeinwohl vermutet wird. Das ist bei uns anders, und ich füge hinzu: Das sollen wir auch gar nicht übernehmen, obwohl es sich bei allen drei Staaten um respektable Demokratien handelt. Zudem unterscheiden sich diese Gesellschaften von uns durch eine größere Akzeptanz neuer Technologien bei deutlich geringerem Datenschutz. Wenn wir in Normalzeiten überzeugt sind, dass Datenschutz und individuelle Werte demokratisch und politisch wichtig sind, sollten wir diese in einer Krise nicht einfach über Bord werfen.

Werden die westlichen Demokratien gestärkt aus dieser Krise hervorgehen oder teilen Sie den Pessimismus jener, die eine autoritäre Wende befürchten?

Wie gesagt: Mein grundsätzliches Vertrauen gegenüber unsere- Demokratie- und Gesellschaftsmodell hat nicht grundsätzlich gelitten. Prinzipiell traue ich unseren Staaten. Trotzdem befürchte ich eher negative Erblasten als positive Lerneffekte: Wieder hat sich die Über-Moralisierung von Politik gezeigt. Hier liegt eine der zentralen Ursachen für die wachsende Polarisierung: Alexis de Tocqueville hat im 19. Jahrhundert geschrieben, dass die USA Europa den Spiegel ihrer Zukunft vorhalten. Wir können nur hoffen, dass er dieses Mal nicht recht hat. Ich sehe die Gefahr der Gewöhnung an einen Politikstil, der die Parlamente beiseiteschiebt, weil sie "zu langsam" agieren. Eine solche Einschätzung gibt es sowohl in der Bevölkerung als auch der Exekutive. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Parlamente noch geringeres Ansehen genießen als die Regierungen. Das darf nicht verschärft werden. Gerade bei der als drängend empfundenen Klimafrage ist es verführerisch, demokratische Debatten und Prozeduren als langwierig und lästig aus dem Weg zu räumen. Demokratie darf nicht nur vom Ergebnis her gedacht werden, sondern die Partizipation der Bürger und die verfassungskonforme Entscheidungsfindung müssen beachtet und geschützt werden. Wir dürfen nicht einfach in die nächste Krise stolpern und wollen nicht erneut über Notstandserlasse regiert werden. Gefragt sind heute mehr denn je kritische Bürger und Medien, die den Regierenden auf die Finger schauen. Auch das gehört zur Demokratie.