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Demokratische Gehversuche in einem gespaltenen Wüstenstaat

Von Alexander U. Mathé und Michael Schmölzer

Politik

Übergangsregierung ändert Spielregeln für Zeit nach der Wahl. Separatistische Cyrenaika ruft zu Wahlboykott auf


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Tripolis/Wien. "Für diesen Moment haben wir unsere Leben gegeben", freut sich der Mann aus Zintan. Nach dem Bürgerkrieg und dem Sturz von Diktator Muammar Gaddafi im Oktober kann der Libyer zum ersten Mal wählen. Bis jetzt galt Gaddafis Glaubenssatz, dass die parlamentarische Demokratie den "Volkswillen" verfälsche. "Unter Gaddafi wurde uns beigebracht, dass die Mitglieder politischer Parteien Verräter des Staates seien", bestätigt die Lehrerin Fawzia Masoud. Die Ära der Unfreiheit hat im Volk ihre Spuren hinterlassen. "Erst jetzt lernen wir, was eine Partei ist, was sie tut und wie Wahlen ablaufen - wir haben das noch nie gemacht, aber es ist aufregend", sagt Fawzia.

Doch wie fragil die Lage in Libyen acht Monate nach dem Tod Gaddafis ist, wie unsicher der Übergang zur Demokratie, wurde am Freitag klar: Einen Tag vor der Wahl einer Nationalversammlung gab die Übergangsregierung völlig überraschend bekannt, dass die Spielregeln plötzlich völlig andere seien. Der Nationalkongress, der am Samstag bestimmt werden soll, dürfe nur das Prozedere für die Wahl einer 60-köpfigen Verfassungskommission bestimmen. Die Mitglieder dieser Kommission würden dann vom Volk direkt gewählt werden, ihr dürften keine Mitglieder des Nationalkongresses angehören.

Bisher hatte es geheißen, der Nationalkongress werde die Mitglieder der Verfassungskommission selbst ernennen. Diese werde dann die Konstitution mit Zweidrittelmehrheit beschließen. Damit hat die Regierung in Tripolis die Bedeutung der Wahl am Samstag massiv geschmälert und die Verunsicherung, die in Libyen ohnedies herrscht, weiter verstärkt. Viele der 2,7 Millionen Wahlberechtigten fühlen sich nach mehr als 40 Jahren Diktatur vom komplizierten demokratischen Prozess überfordert, die überraschenden Wendungen und Änderungen machen die Sache nicht leichter.

Bei der Wahl der nun in ihren Befugnissen beschnittenen Nationalversammlung werden 200 Mandate vergeben. 100 sind für Kandidaten aus dem Westen des Landes reserviert, 60 für den erdölreichen und dem entsprechend selbstbewussten Osten, 40 entfallen auf den Süden. Das Proporzsystem soll sicherstellen, dass es nicht zu Unruhen in dem regional gespaltenen Land kommt.

Erste Wahl nach skurrilem diktatorischen System

Das politische System, das der exzentrische Diktator Muammar Gaddafi über Jahrzehnte etabliert hat, mutet skurril an. Die Macht lag der Verfassung zufolge bei Volkskongressen und -komitees, in der Realität waren diese aber bedeutungslos, die proklamierte "Volksherrschaft" eine reine Farce. Gaddafi und seine Familie dominierten das Land unumschränkt. Seit 1979 hatte der Revolutionsoberst kein offizielles Amt mehr inne. Bis zuletzt hielt Gaddafi daran fest, dass er deshalb auch gar nicht gestürzt werden könne.

Heute, da ein junger demokratischer Prozess im Gang ist, sind die Probleme mehr als offenkundig. Die meisten politischen Formationen sind für die Bevölkerung neu, sodass die Wähler durch das Kandidatenfeld "verwirrt" seien, sagte Sami Saptia, Herausgeber des "Libya Herald". Die meisten Parteien haben gar kein Wahlprogramm; lediglich ein paar Grundsätze sind formuliert. An Debatten oder Wahlkampagnen war schon gar nicht zu denken. Weniger die Themen als der Drang zur Macht zählen. Schon jetzt steht fest, dass Islamisten und Kandidaten, die von den großen Stämmen unterstützt werden, einen großen Teil der 200 Mandate abräumen werden. Viele Libyer glauben, dass es zu Wahlfälschungen kommen wird.

Situation für Frauen besonders schwer

Für Libyens Frauen ist die Situation der Wahl besonders schwer. Zwar ist eine gewisse Quote im Nationalkongress für Frauen reserviert, doch dass sie aktiv am Urnengang teilnehmen können, bezweifeln viele von ihnen. Zum einen fürchten sie, ihre Männer könnten sie nicht wählen lassen, zum anderen, dass ihnen der Zugang zu den Wahllokalen verwehrt wird.

Ein massives Problem stellt die innere Zerrissenheit Libyens dar. Der Osten, die Cyrenaika, konkurriert mit dem Westen, der demokratische Prozess wird von Stammesrivalitäten überlagert, selbst Nachbardörfer sind bis aufs Blut verfeindet. Wie fragil der Zusammenhalt ist, wurde in den letzten Tagen klar. Die Übergangsregierung wird in der Cyrenaika als vom kulturell völlig anderen Westen Libyens dominiert empfunden, viele in Bengasi steigen auf die Barrikaden.

Anfang der Woche verwüsteten Gegner des Nationalen Übergangsrates Wahllokale und riefen zum Boykott des Votums auf. Stammes- und Milizführer erklärten die Cyrenaika für autonom und setzten Scheich Ahmed al-Senussi, einen Verwandten des von Gaddafi gestürzten Königs Idris I., an die Spitze der Separatverwaltung. Separatisten führten zuletzt einen Schlag gegen den Lebensnerv Libyens, die Ölindustrie. Sie erzwangen die Schließung wichtiger Ölhäfen, die Produktion in Ras Lanuf und Al-Sidra kam zum Stillstand, der Ölproduktion in Brega droht das gleiche Schicksal.

Hunderte Tote bei Gefechten vor Wahl

Auch im Süden des Landes ist die Lage extrem instabil. Hier bekämpfen einander verfeindete Stämme, die Gefechte haben bereits hunderte Tote gefordert. In erster Linie geht es um territoriale Ansprüche, die seit dem Wegfall des totalitären Gaddafi-Systems erstmals offen ausgetragen werden. In den Städten Sirte und Bani Walid, einst Hochburgen der Gaddafi-Anhänger, sind die neuen Machthaber verhasst, Meldungen von Sabotage-Aktionen mehren sich. Im besten Fall herrschen hier massive Skepsis und Misstrauen. Nur ein Fünftel der Bevölkerung hat sich in Sirte für die Wahl registrieren lassen.

Libysche Armee ist in Alarmbereitschaft

Die libysche Armee ist angesichts dieser Situation in Alarmbereitschaft, rund um die Wahllokale wurden Soldaten und Milizionäre postiert, es herrscht eine angespannte Atmosphäre. Die bewaffneten Demonstranten haben bereits gewarnt: Die libyschen Behörden sollen sich nicht in falscher Sicherheit vor den Wahlen wähnen.

Der Wahlgang wird von einer EU-Beurteilungsmission unter Leitung des deutschen FDP-Europaabgeordneten Alexander Graf Lambsdorff beobachtet. Der Mission gehören 21 Experten an. Eine Wahlbeurteilung wird anstelle einer Wahlbeobachtung vorgenommen, wenn die Sicherheitslage eine große Mission mit Lang- und Kurzzeitexperten nicht zulässt. "Erstmals seit Jahrzehnten" hätten die Libyer die Möglichkeit, "ihre Vertreter zu wählen", sagte Lambsdorff.

Dies sei "ein historischer Schritt für das Land und seine Bevölkerung". Doch wie groß er ist, bleibt bei all der Verwirrung, Gewalt und Willkür offen. Erst nach der Wahl wird sich weisen, ob die ersten Schritte der jungen Demokratie trotz ihrer Unsicherheit gefeiert werden können und in einem Fall auf den Boden der Realität enden.