)
Präsident Erdogan wird in der EU fälschlicherweise mit der Türkei gleichgesetzt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die komplizierte Beziehungsgeschichte von EU und Türkei beginnt mit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens 1963. Der türkische Wissenschafter Ziya Öniş spricht von einem zyklischen Muster aus abwechselnder Annäherung und Abkühlung: Mit jeder Annäherung rückte die Türkei näher an die EU heran, jede Abkühlung brachte neue Hürden für eine Vollmitgliedschaft.
Aus türkischer Sicht galt lange die Integration mit Europa als Bestätigung der durch den Kemalismus verordneten säkular westlichen Identität des Staates. Die kemalistischen Eliten sahen eine EU-Mitgliedschaft als Garantie für den Säkularismus. Aus EU-Sicht wiederum ist das Nato-Mitglied Türkei zwar ein geostrategisch unverzichtbarer Partner, aber nicht Teil jenes historischen Narratives, das den europäischen Integrationsprozess begleitet.
Laut Thomas Diez produzierte dieses Narrativ nach unterschiedlichen räumlichen oder zeitlichen Gegebenheiten und Interessenlagen verschiedene Vorstellungen von "europäischer Identität". Osteuropa etwa repräsentierte das durch Konflikt, Krieg und Nationalismus geprägte historische Europa, das es mittels Integration zu bewältigen und zu verändern galt. Die Türkei stellte das geopolitische Andere dar: Während das historische Europa die eigene Vergangenheit spiegelt, wird sie statisch und essenziell anders und damit als unveränderbar gesehen.
Weil vor allem geostrategische Argumente im Vordergrund standen und ein begleitendes verständliches Narrativ fehlte, stieß die Vorstellung eines EU-Beitritts der Türkei in vielen Ländern auf großen Widerstand. Zwar spielten auch die erst kurz davor stattgefundene Osterweiterung und die Angst vor Migration oder Lohndumping eine Rolle in den Debatten um die Aufnahmekapazität der EU, im Vordergrund standen aber Fragen über die "Europatauglichkeit" der türkischen Kultur und Identität. Dies prägte die Form und den Verlauf des Beitrittsprozesses von Beginn an.
Neuer Nationalismus
Angesichts der Überzeugung vieler Türken, die EU werde sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Islam nicht aufnehmen, wuchs - auch durch die regierende AKP gefördert - der Euroskeptizismus. Ein von der Regierung propagierter neuer Nationalismus sieht die Türkei als stolzen Erben der Osmanen. Regionalpolitische Ambitionen beinhalten starke anti-imperialistische historische Referenzen. Forderungen, Vorgaben oder Mahnungen aus Brüssel werden oft als Bevormundung mit Verweis auf demokratische Defizite oder Rechtsübertretungen in EU-Mitgliedstaaten zurückgewiesen.
Dieses Verhalten widerspricht der Natur der Beitrittsprozesse. Bisher waren sie dadurch geprägt, dass die EU Kriterien und Regeln vorgab, die von den Beitrittskandidaten ohne Wenn und Aber umzusetzen waren. Das Fehlen einer realistischen Beitrittsperspektive, populistische und zum Teil rassistische und islamophobe Aussagen von EU-Politikern haben den Einfluss der EU auf die Entwicklungen in der Türkei geschwächt.
Auch aufgrund der Aufwertung ihrer geostrategischen Bedeutung sieht sich die Türkei als gleichwertiger und gleichberechtigter Partner in einer komplexen Beziehung, in der beide Seiten ihre Interessen maximal umsetzen wollen. Auch die Verhandlungen über den Flüchtlingsdeal sind aus dieser Perspektive zu bewerten. Als Ansprech- und Verhandlungspartner gelten aus Sicht Ankaras ausschließlich die großen EU-Staaten. Zurufen aus Athen, Wien oder Nikosia, dem EU-Parlament oder der EU-Kommission wird meist keine größere Bedeutung zugemessen. Der starke Fokus auf die großen EU-Staaten spiegelt eine realistische Analyse beziehungsweise auch die Erfahrungen aus der Vergangenheit wider. So waren es stets die großen EU-Länder, die eine negative oder aber positive Zykluswende herbeiführten.
In jüngerer Zeit ist das Bild der Türkei vor allem durch Präsident Recep Tayyip Erdogan geprägt. Er verkörpert in der medialen Darstellung dabei oft den orientalischen Despoten. Für viele Kritiker eines EU-Beitritts ist dies ein weiterer Beweis für die "Europa-Untauglichkeit" der Türkei. Dabei werden nicht nur Erdogan fälschlicherweise mit der Türkei gleichgesetzt und ähnliche autoritäre Tendenzen in anderen Beitrittsstaaten beziehungsweise einigen Mitgliedstaaten außer Acht gelassen, sondern auch die Mitverantwortung der EU ausgeblendet.
Abbruch wäre gefährlich
Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 stellt einen neuen Höhepunkt in der wachsenden Destabilisierung der Türkei dar. Es kam zu einer weiteren Entfremdung zwischen den türkischen und europäischen Öffentlichkeiten. Im türkischen Diskurs stand die Vereitelung des Putsches durch zivilen Widerstand im Vordergrund, selbst Regierungskritiker bejubelten die Niederschlagung und erhofften eine Rückkehr zu demokratischen Prinzipien - die europäische Debatte hingegen konzentrierte sich bloß auf Erdogan-Kritik und ignorierte die demokratischen Kräfte in der Türkei.
Deren Ausblendung sowie eine stark durch rechtspopulistische Rhetorik geprägte innenpolitische Dynamik veranlassten nicht zuletzt auch österreichische Regierungsmitglieder, den Abbruch der Beitrittsverhandlungen zu fordern. Derlei Zurufe fördern allerdings lediglich die nationalistischen anti-europäischen Kräfte in der Türkei.
Die Türkei ist in ihrer Entwicklung stark von der EU abhängig. Die Verhandlungen jetzt abzubrechen, würde nationalistische und religiöse Kräfte stärken und ein bestimmteres außenpolitisches Handeln fördern. Die Eröffnung von Verhandlungskapiteln, die mit Rechtsstaatlichkeit zu tun haben, könnte positiv wirken und den Einfluss der EU stärken. Gleichzeitig sollten Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit entschlossen thematisiert werden. Es gilt den Kontakt mit der türkischen Zivilgesellschaft zu intensivieren.
Die Verhandlungen auf Zypern sind ebenso in einer entscheidenden Phase, und die Anstrengungen sollten aktiv unterstützt werden. Die Türkei-Politik sollte von innenpolitischen, durch Populismus geprägten Debatten weitgehend entkoppelt, versachlicht und rationalisiert werden. Die Form der Kritik ist hier besonders wichtig. Österreich und die EU sollten die Beziehungen in Sachen Wirtschaft, Energie, Integration und Terrorbekämpfung intensivieren.
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch "25 Ideen für Europa", das im Eigenverlag der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik erscheint. Kostenlose E-Book-Version unter: www.oegfe.at/25ideenfuereuropa