Mehr Einmischung der EU als die bisherige sollte derzeit nicht stattfinden, denn sie spielt Präsident Lukaschenkos Narrativ der "vom Westen gesteuerten Revolutionen" in die Hände.
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Seit mehr als einer Woche ist Belarus geprägt durch Massenproteste gegen die Fälschungen bei den Präsidentschaftswahlen. In den ersten Reaktionen versuchte der Langzeitpräsident Alexander Lukaschenko mittels massiver Gewalt und Verhaftungen tausender Menschen den Widerstand der Protestbewegung zu brechen. Seit einigen Tagen scheint das Regime nun eine neue Taktik zu verfolgen: Verzögerung. Der Präsident lässt die Proteste geschehen. Die erhoffte Atempause für das Regime wird es jedoch vermutlich nicht geben. Neben den abendlichen Demonstrationen nehmen Streiks landesweit seit Ende voriger Woche zu. Am Montag schlossen sich dann auch Mitarbeiter des Staatsfernsehens und großer staatlicher Betriebe den Massenstreiks an.
Der seit 26 Jahren amtierende Herrscher Lukaschenko steht mit dem Rücken zur Wand. Seine Auftritte bei den Streikkundgebungen in den großen Staatsbetrieben am Montag führten ihm nun auch vor Augen, dass er auch große Teile der Arbeiterschaft, eine wesentliche Machtbasis, verloren hat. Somit ist auch Lukaschenkos Angebot einer Verfassungsreform und anschließender Neuwahlen nicht mehr als ein Spiel auf Zeit.
Die Zeit könnte jedoch knapp werden. Die Formierung eines Oppositionsrates durch die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja am Dienstag soll den Weg für eine friedliche Transition der Macht ebenen. Der Erfolg bleibt abzuwarten, denn Lukaschenko hat keine vernünftige Exit-Strategie und würde die Macht laut eigener Aussage nur über seine Leiche abgeben. Nun wurde auch bekannt, dass Lukaschenko viele Angehörige der Sicherheitskräfte für ihre treuen Dienste bei der Niederschlagung der Proteste ausgezeichnet hat - ein Affront gegenüber den Familien der Toten und der noch mehr als 80 Vermissten sowie den vielen misshandelten Teilnehmern der Proteste.
Lukaschenkos Rhetorik zeigt keinen Willen einzulenken
Den Oppositionsrat nennt der noch amtierende Präsident einen "Versuch der Machtergreifung". Seine Rhetorik zeigt keinen Willen einzulenken. Von Tag zu Tag wird somit unwahrscheinlicher, dass die Bevölkerung eine Sicherheitsgarantie im Tausch für einen Amtsverzicht Lukaschenkos akzeptieren könnte. Jedoch ist die Lage nach wie vor undurchsichtig. Die Handlungen des Regimes sind teils irrational. Eine Vorhersage der weiteren Entwicklungen ist kaum möglich. Sogar der Fortbestand des Regimes ist noch im Bereich des Möglichen. Die aktuelle Dynamik lässt sich jedenfalls nicht (mehr) mit anderen Regimewechseln im postsowjetischen Raum seit 1989 vergleichen. Jedes weitere Szenario ist aber nicht nur von der inneren Entwicklung abhängig, sondern wird auch vom Verhalten externer Akteure beeinflusst werden.
Die EU erkennt das Wahlergebnis nicht an. Das EU-Parlament erklärte Lukaschenko zur Persona non grata. Ebenso sind die Sanktionen gegen Individuen, die seitens des Regimes die gewaltsame Niederschlagung der Proteste zu verantworten haben, ein deutliches Zeichen der Unterstützung für die Menschen in Belarus. Mehr Einmischung sollte jedoch derzeit nicht stattfinden, denn sie spielt Lukaschenkos Narrativ der "vom Westen gesteuerten Revolutionen" in die Hände. Schließlich sind solche "Farbrevolutionen" eine rote Linie für viele Militärs in Minsk wie in Moskau. Somit könnten zu viel Optimismus und Unterstützung das gegenwärtige Regime wieder legitimieren, im schlimmsten Fall sogar die Stellung Lukaschenkos gegenüber politischen Hardlinern in Russland verbessern.
Russlands Eingreifen istderzeit nicht wahrscheinlich
Derzeit ist das - von vielen westlichen Kommentatoren gefürchtete - Eingreifen Russlands (oder "grüner Männchen") nicht wahrscheinlich, weder um Belarus als geografische Pufferzone gegenüber der Nato "zu retten", noch um Lukaschenko an der Macht zu halten. Die Reaktion des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Hilfegesuche aus Minsk am Wochenende war eine deutliche - wenn auch verklausulierte - Absage: keine Hilfe, außer bei einem militärischen Angriff von außen. Eine Intervention gegen die Protestbewegung würde den Kreml selbst schwächen, gibt es doch seit Wochen Massenproteste im Osten Russlands. Die laufenden Manöver des russischen Militärs und der Nationalgarde entlang der Westgrenze sind ebenfalls keine (absichtliche) Reaktion auf die Ereignisse in Minsk, sondern seit langer Zeit geplant. Auch unangekündigte Übungen sollten hier nicht überbewertet werden. Ebenso ist die vermehrte Präsenz russischer Armeeangehöriger inklusive Material in Belarus auf den banalen Grund der "Army Games 2020" zurückzuführen.
Eine Geopolitisierung der Ereignisse in Belarus im Sinne eines Ost-West-Konfliktes sollte weiter möglichst vermieden werden. Es mutet schon seltsam an, wenn in österreichischen (und westlichen) Medien nicht über Belarus berichtet werden kann, ohne die Frage der russischen Reaktion aufzuwerfen. Auch stellt sich die Frage, warum die deutsche Kanzlerin Angela Merkel im Telefonat mit Putin am 18. August auf ein Ende der Gewalt und die Freilassung politischer Gefangener drängte. Wenn es darum, geht ein Ukraine-Szenario wie 2013/2014 zu verhindern, so ist dies zu begrüßen. Zugleich nehmen aber die Stimmen jener europäischen Politiker und Intellektuellen zu, die die belarussische Demokratiebewegung mit einer pro-westlichen Ausrichtung des Landes diskursiv verknüpfen (wollen).
Dabei geht es den Menschen nicht um eine Zugehörigkeit zu West oder Ost, sondern um Mitbestimmung, Grundfreiheiten und eine bessere Zukunft in ihrem Land. Das zeigt sich deutlich durch die Ablehnung jeglicher "fremder Flaggen" bei den Kundgebungen. Auch die Frauen an der Spitze der Opposition, Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa, unterstreichen das in vielen Aussagen. Es liegt an den Menschen in Belarus, über den weiteren Weg ihres Landes zu entscheiden. Den laufenden Machtkampf in Minsk zum geopolitischen Spielball zu machen, ist aber weder für europäische Staaten (oder die USA) noch für Russland ratsam. Alle Beteiligten würden in diesem Spiel verlieren, und die Leidtragenden wären besonders die Menschen in Belarus.