Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte die Schweiz wegen Verletzung der Versammlungsfreiheit.
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In einem vergangene Woche verkündeten Urteil (CGAS) verurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz wegen Verletzung der Versammlungsfreiheit. Wegen des damals neu auftretenden Coronavirus hatte der Bundesrat, also die Schweizer Bundesregierung, im März 2020 in drei in kurzer Abfolge noch weiter verschärften Verordnungen ein Zusammenkommen von (immer weniger) Personen verboten, damit de facto ein absolutes Demonstrationsverbot erlassen und dieses mehr als zehn Wochen aufrechterhalten. Dieses Urteil, das aus unerfindlichen Gründen in Österreich offenbar unbemerkt "durchgerutscht" ist, muss auch für Österreich großen Umsetzungsbedarf auslösen.
Auch für Österreich relevant
Das Urteil selbst stellt zwar auf Besonderheiten des Schweizer Rechts ab, die aber weitgehend auch für Österreich relevant sind. Weil die Schweiz den Parteienantrag auf direkte Normprüfung nicht kennt, hat der EGMR die direkte Anfechtung des Gesetzes in Straßburg zugelassen. Mit der Begründung, dass der beschwerdeführenden Gewerkschaft ein innerstaatlicher Umweg, nämlich die Einreichung eines aufgrund klarer Verordnungslage absolut chancenlosen Antrags, nicht zumutbar war. Er hat zwar wiederum betont, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) keine actio popularis kenne, ist aber von der direkten Betroffenheit der Gewerkschaft ausgegangen, deren Tätigkeit weitgehend darauf ausgerichtet sei, öffentliche Zusammenkünfte und Veranstaltungen durchzuführen.
Der Bundesrat hatte im Verfahren versucht zu argumentieren, dass die Gewerkschaft einen (aussichtslosen) Antrag auf Ausnahmebewilligung stellen hätte müssen, gegen den sie dann innerstaatlich vorzugehen gehabt hätte. Der EGMR erklärt dazu, dass offenkundig aussichtslose und vor allem auch nicht zeitgerechte Rechtswege nicht zu erschöpfen seien. Beim Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gehe es um ein besonders wichtiges demokratisches Grundrecht, dem im Hinblick auf die demokratische Entwicklung zentrale Bedeutung zukomme.
Zwar sei einzuräumen, dass angesichts der weitgehend noch unbekannten Epidemie und der damit quasi überfallsartigen Dringlichkeit von Maßnahmen im März 2020 ein umfassender parlamentarischer Entscheidungsprozess nicht infrage gekommen wäre, gerade deshalb hätte die Regelung dann aber einen unmittelbar wirksamen zeitnahen Rechtsschutz gewähren müssen. Der EGMR sieht damit die Qualität des parlamentarischen Prozesses und die Qualität und Zeitnähe des gerichtlichen Rechtsschutzes als kommunizierende Gefäße - je summarischer der parlamentarische oder behördliche Prozess stattfinden musste, desto dringender ist die effektive Wirksamkeit des anderen. Immerhin fänden Demonstrationen im Freien statt, und es wäre daher zu prüfen gewesen, ob es nicht gelindere Mittel zum Schutz der Gesundheit der Demonstrationsteilnehmer gegeben hätte.
Urteil kam knapp zustande
Das Urteil ist sehr kontrovers und knapp zustande gekommen, zwei Richter haben ein zustimmendes Sondervotum abgegeben, drei Richter haben ein dissentierendes Sondervotum begründet, das allerdings wenig überzeugt. Das zustimmende Sondervotum betont das entscheidende Erfordernis einer zeitnahen gerichtlichen Entscheidung, ohne die das Grundrecht verletzt werde. Das dissentierende Sondervotum argumentiert, dass die Beschwerdeführerin trotz aller Aussichtslosigkeit den inneren Rechtsweg erschöpfen hätte müssen. So kann man Menschenrechte auch zerreden. Die drei Richter versuchen auch, einen weiten Ermessensspielraum bei gesundheitspolitischen Maßnahmen zu behaupten, während die Mehrheit in ihrem Urteil von der enormen grundsätzlichen Bedeutung der Demonstrationsfreiheit ausgeht.
Für Österreich ist das Urteil in doppelter Hinsicht bedeutsam. Auch in Österreich wurde im ersten Lockdown über Monate ein allgemeines Demonstrationsverbot verfügt, das jedoch damals anscheinend niemand angefochten hat. Zukunftweisender ist allerdings die Kritik des EGMR an der Qualität des parlamentarischen Prozesses - auch dem österreichischen Gesetzgeber und dem Bundespräsidenten kann man zum Beispiel beim Impfpflichtgesetz angesichts der offenkundig gänzlichen Nichtbeachtung der fast 100.000 Einsprüche mangelnde Prüfungstiefe vorwerfen. Noch allgemeiner stellen sich die Überlegungen des EGMR zur Dringlichkeit von Verfassungsprüfungen gerade bei zentralen Grundrechten dar. Man erinnert sich an die süffisante Aussage von Altbundeskanzler Sebastian Kurz, der ohne jede Umschweife erklärt hat, bis der Verfassungsgerichtshof entschieden habe, sei das Gesetz ohnehin wieder außer Kraft. Diesen Missstand wird man nicht weiter aufrechterhalten können, wenn man von der Forderung des EGMR nach klar zeitnaher Normprüfung bei direkten Eingriffen in Grundrechte ausgeht. Auch die frühere OGH-Präsidentin Irmgard Griss hat diese Forderung kürzlich in den Medien erhoben.
VfGH wäre nun gefordert
Das Verfassungsgerichtshofgesetz sähe bereits die Möglichkeit einstweiliger Anordnungen vor, beschränkt diese im Gesetzestext aber auf vorläufige Maßnahmen zur Durchsetzung von Unionsrecht. Es ist nicht einzusehen, warum innerstaatliches Recht nicht oft der gleichen Dringlichkeit der Rechtsdurchsetzung bedürfen sollte, und der EGMR verlangt im Urteil CGAS genau das bei Grundrechtseingriffen. Der Verfassungsgerichtshof müsste dabei nur die Gesetzesnorm ausdehnend auch auf innerstaatliche Sachverhalte anwenden. Eine nähere gesetzliche Regelung wäre allerdings wohl wünschenswert.
Man könnte auch bei den Verwaltungsgerichten einen Senat einrichten, der vorläufige Maßnahmen setzen kann, und man könnte dabei eine Wochenfrist für die Entscheidung festlegen, wie sie beispielsweise für Schubhaftbeschwerden seit 32 Jahren besteht und stets eingehalten werden konnte. Man müsste nur wollen.
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