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Das Programm der neuen deutschen Ampel-Regierung.
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Der Koalitionsvertrag der neuen deutschen Regierung bezeugt deren "Lust auf Zukunft und Mut zur Veränderung"; und damit einen Bruch mit der von Stagnation geprägten langen Ära Angela Merkels. Die jeweilige Handschrift der drei so unterschiedlichen Koalitionspartner ist deutlich sichtbar: für die FDP durch die Festlegung auf eine weiterhin restriktive, dem EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt entsprechende Budgetpolitik; für die SPD durch ein Programm zur Weiterentwicklung des Sozialstaates; und für die Grünen in weitreichenden, detaillierten Vorschlägen zu Umwelt- und Klimaschutz.
Die Ampel-Koalition sieht sich Reformen verpflichtet, die weit gehen, für die aber ein breiter gesellschaftlicher und politischer Konsens erwartet werden kann. Nimmt man den Klimaschutz und den Wunsch nach einem föderalen europäischen Bundesstaat aus, dann fordert das Koalitionsprogramm jedoch nicht jenen Aufbruch zu neuen Ufern, der angesichts gewaltiger gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und weltpolitischer Umschichtungen nötig wäre. Es umreißt, was wünschbar ist und zugleich möglich scheint; nicht aber all das, was darüber hinaus nötig wäre.
Vor dem Hintergrund schneller und tiefer Veränderungen in den internationalen und globalen Beziehungen gilt das vorrangige Interesse anderer Staaten natürlich Festlegungen zur künftigen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Ins Auge springt vor allem das Bekenntnis - in demonstrativer Einigkeit mit Frankreich - zu einem starken, strategisch souveränen Europa. Deutsche Interessen, heißt es, würden im Lichte europäischer definiert. Die "Konferenz zur Zukunft Europas" sollte in einen europäischen Verfassungskonvent münden und dieser in nicht weniger als einen "Föderalen Europäischen Bundesstaat". Beschlüsse zur Außen- und Sicherheitspolitik der EU sollten statt wie bisher einstimmig künftig auch mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden können. Auch das EU-Parlament sollte ein bisher nur der EU-Kommission vorbehaltenes Initiativrecht erhalten. Seine Abgeordneten sollten teils durch europaweite (nicht bloß nationale) Listen bestimmt werden.
In und durch dieses gestärkte Europa will sich Deutschland für die Beachtung der Menschenrechte einsetzen und für den Erhalt beziehungsweise die Wiederbelebung des weltpolitischen Multilateralismus sowohl auf politischem Gebiet (UNO, OSZE, Europarat) wie auch auf wirtschaftlichem. Daher auch eine Absage an außenwirtschaftlichen Protektionismus. Die Koalition bekennt sich so zu den Freihandelsverträgen der EU, darunter auch Mercosur (wobei von Lateinamerika gefordert wird, soziale und ökologische Normen strikt zu beachten).
Erstaunlich kantig sind Aussagen zur Politik gegenüber Russland (Menschenrechte, Ukraine) und China (Taiwan, Uiguren). Die Glaubwürdigkeit dieser eher harten Linie bekräftigt der Abgesang aufs umstrittene, ausverhandelte, aber nicht beschlossene deutsch-chinesische Investitionsabkommen, das "unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht weiter verfolgt" werde, wie es heißt.
Beim linken Flügel der deutschen Politik umstritten waren die Entwicklung und der Einsatz bewaffneter Drohnen sowie die "nukleare Teilhabe", bei der deutsche Kampflugzeuge - nämlich veraltete Tornados - auf deutschem Gebiet mit atomaren Kleinwaffen der USA bestückt werden konnten. Linke Politiker wollten dies auslaufen lassen. Stattdessen soll jetzt aber ein Ersatz für die Tornados beschafft werden. Das Militärbudget wird aufgestockt; zunächst aber nicht bis zum von der Nato vorgegebenen Rahmen von 2 Prozent. Für alles "Internationale" will man 3 Prozent des BNP verwenden - dieses Geld fließt zu gleichen Teilen ins Militär sowie in Humanitäres (Entwicklungs-, Flüchtlings- und internationale Katstrophenhilfe).
"Vervölkerrechtlichung des Internet", Hartz IV entschärft
Aus dem Text wird nicht klar, ob geplant ist, Cyberwaffen auch offensiv einzusetzen. Die Frage ist allerdings eingebettet in ein anderes, größeres, geradezu utopisches Projekt der "Vervölkerrechtlichung des Internet". Damit würde nicht nur verhindert, dass die IT als Kriegsschauplatz genutzt wird. Sie würde damit auch aus den Klauen profitmaximierender Megakonzerne befreit und zu einem "global common", wie es die Weltmeere oder das Weltall sind.
Aufbruchstimmung und der Wille zur Veränderung kennzeichnen die Ausführungen zu Migration, Asyl und Integration. Hier soll es einen "Paradigmenwechsel" geben. Deutschland soll sich als Einwanderungsland verstehen ("Migration war schon immer Teil des Landes"), Einbürgerungen sollen - wie der Zuzug von Fachkräften - erleichtert und beschleunigt werden. Das Wunschbild einer deutschen Leitkultur ersetzt das Bekenntnis: "Deutschland ist ein Land der kulturellen Vielfalt." Straffällige Asylwerber sollen allerdings konsequenter abgeschoben werden, auch durch Abkommen mit den Herkunftsländern, aber mit Hilfe bei der Wiedereingliederung in der alten Heimat.
Symbolisch für die im grundsätzlich konservativen Deutschland doch neue gesellschaftliche Liberalität ist die Legalisierung des genussweisen Konsums von Cannabis; aber auch ein höchst liberales Konzept von Familie: Diese existiert "überall dort, wo Menschen füreinander langfristig Verantwortung übernehmen".
Das Abwertende bei Hartz IV - noch unter dem sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder beschlossen - soll überwunden werden: Die Mindestsicherung wird zum "Bürgergeld" aufgewertet, Härten der alten Regelung werden beseitigt. Eine umfassende berufliche Aus- und Weiterbildung soll die Wiedereingliederung am Arbeitsmarkt erleichtern. Ein Mindestlohn von 12 Euro soll die Ausweitung des zuletzt stark gewachsenen deutschen Niedriglohnsektors unterbinden. Auch das bisherige Kindergeld wird zu einer "Kindergrundsicherung" erweitert, mit der sämtliche finanzielle Zuwendungen an Kinder zusammengefasst und aufeinander abgestimmt werden.
Klimaschutz und Rückkehr zur Schuldenbremse
Im Wirtschaftsteil dominieret die Klimapolitik. Der Wasserstofftechnologie wird dabei eine Schlüsselrolle zuerkannt. Die Nutzung von Kohle als Energieträger endet schon 2030, also fünf Jahre früher als geplant. Dennoch bekennt man sich weiterhin zur Stilllegung der AKW. Der (fossile) Energieträger Erdgas soll als Brückentechnologie etwaige Versorgunglücken schließen. Mit Schwerpunkt auf den Bahnausbau soll die Verkehrsinfrastruktur modernisiert werden. Bei der Straßeninfrastruktur liegt der Schwerpunkt nicht auf dem Bau neuer Straßen, sondern auf der Reparatur bestehender. Der Neubau von Wohnungen wird auf jährlich 400.000 ausgeweitet, 100.000 davon gemeinwirtschaftlich und "mit dauerhafter Sozialbindung".
Diese Aufzählung von geplanten Projekten ist höchst unvollständig. Fast auf jeder der 177 Seiten des Koalitionspaktes werden ehrgeizige Ziele gesteckt und Strategien skizziert, um diese zu erreichen. Unausweichlich stellt sich die Frage, wie denn das alles finanziert werden soll. Keinesfalls durch höhere Staatsschulden. Dazu gab es ein dröhnendes Veto des neuen Finanzministers von der FDP. Ab 2023 - also ab dem erhofften Ende der Corona-Pandemie - gilt wieder die in Deutschland in den Verfassungsrang erhobene Schuldenbremse. Diese restriktive Politik will die Regierung auch der EU oktroyieren.
Schließt man Steuererhöhungen aus - zu diesen schweigt das Programm -, muss man das für die vielen Reformen erforderliche Geld vom privaten Kapitalmarkt beschaffen. Dazu bekennt sich die Koalition. Die Pensionen sollen zum Teil durch Veranlagungen auf dem Kapitalmarkt gedeckt werden. Wichtige Investitionen, vor allem in die Infrastruktur, sollen in öffentliche Unternehmen ausgelagert werden, die sich am Kapitalmarkt verschulden können, ohne dass diese Schulden den Staatsschulden zugerechnet werden. Die für die Energiewende benötigten riesigen Geldmengen sollen durch grüne Bonds aufgebracht werden. Dies würde - unter sozialdemokratischer Führung - zu einer weitgehenden "Finanzialisierung" öffentlicher Einrichtungen, wichtiger Lebensbereiche und der Wirtschaft führen. Die USA oder Großbritannien haben diesen Weg eingeschlagen - nicht zum Vorteil der Bevölkerung.
Das (wie auch immer finanzierte) Reformprojekt der neuen deutschen Regierung ist jedenfalls breit angelegt und ehrgeizig. Dennoch ist es unzulänglich angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor denen Politik und Wirtschaft stehen: einer aufklaffenden Ungleichheit von Vermögen und Einkommen; der Verfestigung einer neuen Klassengesellschaft; schwindender politischer Gestaltungskraft und Aushöhlung der repräsentativen Demokratie; dem ersatzlosen Zerfall der nach 1945 geschaffenen Weltordnung. Neben Reformen sind nun auch Visionen gefragt.