"Die Burka nicht mehr tragen zu müssen, heißt noch nicht frei zu sein", mahnte Sima Samar nach der Vertreibung der Taliban aus Kabul. Nun könnte sie es selbst in der Hand haben, die afghanischen Frauen der Freiheit ein Stück näher zu bringen: Samar wird Frauenministerin und eine der fünf StellvertreterInnen des Regierungschefs Hamid Karsai in der Übergangsregierung Afghanistans.
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Die 44-jährige Gründerin und Leiterin der Hilfsorganisation "Shuhada" hält sich zur Zeit in Kanada auf. In Montreal nahm sie am Internationalen Tag der Menschenrechte den John-Humphries-Preis entgegen - ihre fünfte internationale Auszeichnung - "für ihr mutiges Engagement für die Rechte afghanischer Frauen und Mädchen".
Mit Beharrlichkeit und schier unerschöpflicher Energie hat sie seit 1989 Schulen und Kliniken für Frauen und Mädchen in Afghanistan aufgebaut. Zur Shuhada-Organisation gehören inzwischen auch Projekte wie Teppichweben und Schafzucht, mit denen Frauen sich ihren Lebensunterhalt verdienen können. Außer in Afghanistan unterhält Samar noch ähnliche Projekte für afghanische Flüchtlinge im pakistanischen Quetta, wo sie seit fast zwanzig Jahren im Exil lebte.
Im Oktober reiste sie auf Einladung der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes durch die Bundesrepublik. Unerschrocken forderte sie auch von der Nordallianz die Einhaltung der Frauenrechte, eine Beteiligung von Frauen an der zukünftigen Regierung und die Stationierung einer multi-nationalen Friedenstruppe in Afghanistan. "Vergesst die Frauen nicht", mahnte sie auch vor dem EU-Parlament in Straßburg, beim Internationalen Sozialistentreffen in Mailand und Ende November beim Weltbanktreffen in Islamabad.
Selbst in die Politik zu gehen, konnte sie sich lange Zeit nicht vorstellen: "Zu viele Politikerinnen vergessen ihr Engagement für andere Frauen, wenn sie erst an der Macht sind." Trotzdem zögerte sie nicht, als der Ruf in die Übergangsregierung sie erreichte. Als Frauenministerin könnte sie dafür sorgen, dass Programme für Lebensmittelhilfe, Hygienberatung und Familienplanung angeschoben werden.
"Jetzt geht es doch um die Frauen," sagt sie. Samar hat selbst Unterdrückung erlebt. Als Frau und als Angehörige der ethnischen Minderheit der Hazara. Obwohl sie einen Studienplatz hatte, wollte ihr Vater nicht, dass sie studierte. Sie entzog sich seinem Machtwort durch die Heirat mit einem fortschrittlich denkenden Physikprofessor. Mit ihm verließ sie ihre Heimatstadt Jaghori in der Provinz Ghazni und ging nach Kabul.
Beim prosowjetischen Putsch 1978 wurde ihr Mann vom Geheimdienst ermordet, Samar blieb mit ihrem neu geborenen Sohn allein zurück. Sie beendete ihr Medizinstudium, arbeitete in verschiedenen Krankenhäusern. 1984 ging sie mit ihrem damals 5-jährigen Sohn nach Quetta.
In den Flüchtlingslagern herrscht entsetzliche Not. Als eine schwangere Afghanin starb, weil niemand sich um den Notfall kümmerte, beschloss Sima, ein Krankenhaus für Frauen einzurichten. Sie widerstand den Morddrohungen von Islamisten. Auch ihre Brüder versuchten sie einzuschüchtern, da sie um die "Familienehre" fürchteten. Denn als alleinerziehende, arbeitende Frau setzte Samar sich dem Vorwurf aus, eine Prostituierte zu sein. Ein potentiell tödlicher Vorwurf. 1989 gründete sie ihre erste eigene Frauenklinik und die Shuhada-Organisation. Vier Jahre später errichtete sie das erste Krankenhaus in Afghanistan.
Acht Krankenhäuser mit täglich je 40 bis 70 PatientInnen, zwölf Kliniken sowie 49 Schulen, in die 20.000 Mädchen und Jungen gehen - das ist heute ihre Bilanz. Bislang konzentrierten sich ihre afghanischen Projekte auf die Hazara-Region, weil dort die Macht der Taliban nie so groß war wie in Kabul oder Kandahar. Das heißt nicht, dass sie nicht auch hier den Widerstand religiöser Führer zu spüren bekam.
Seit vor drei Jahren einer ihrer Ärzte verhaftet wurde, ist Samar nicht mehr in Afghanistan gewesen. Von Quetta aus telefonierte sie regelmäßig mit ihren Mitarbeitern vor Ort. Sie konnte es nicht verhindern, dass die Taliban Anfang diesen Jahres zwei ihrer Kliniken gewaltsam übernahmen und einem Mitarbeiter bei lebendigem Leib die Haut abzogen.
Die Ernennung zur Frauenministerin ist für sie selbst wohl genau so überraschend gekommen, wie für viele Afghanistan-Beobachter. "Zwar bin ich nicht in dieses Amt gewählt worden, hoffe aber, dass ich mich als Vertreterin der afghanischen Frauen würdig erweise", sagt sie in der ihr eigenen bestimmten und doch bescheidenen Art.
In Zusammenarbeit mit der deutschen Frauenhilfsorganisation Medica Mondiale startete sie in Quetta erst kürzlich das Projekt "Purple Nest" ("Lila Nest"): ein Schutzhaus für Witwen, alleinstehende Frauen und deren Kinder. "Der einzige Weg, eine Gesellschaft zu ändern, ist durch Bildung", ist Samar überzeugt. Deswegen gibt es im Schutzhaus auch Alphabetisierungskurse. Als Frauenministerin will sie jetzt sicher stellen, dass die Frauen an der Entwicklung der afghanischen Gesellschaft Anteil haben.