Die riesigen Tintenfische erregen Furcht, müssen aber selbst auf der Hut sein.
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"Großmutter, warum hast Du so große Augen?" Wer die Geschichte von Rotkäppchen gehört hat, kennt die Antwort: "Damit ich dich besser sehen kann!"
Ganz so einfach ist es in der Realität nicht. So haben die Augen der Riesen- und Koloss-Kalmare Biologen vor ein Rätsel gestellt. Denn diese zehnarmigen Tintenfische leisten sich die größten Augen im Tierreich. Nur wozu? Schließlich leben in ihrer Unterwasserwelt zahlreiche andere Arten, die sich alle mit deutlich kleineren Sehorganen begnügen. Was hoffen die Kalmare mit ihren Riesenaugen zu entdecken?
Um das zu klären, haben Dan-Eric Nilsson von der Universität Lund (Schweden) und seine Kollegen Computermodelle für das Sehen unter Wasser entwickelt. Damit lässt sich herausfinden, unter welchen Bedingungen überdimensionale Sehorgane einen Vorteil bieten. Die Resultate sind ziemlich eindeutig, berichten die Forscher in "Current Biology": Mit ihren gigantischen Augen versuchen die Tiere offenbar nichts anderes, als ihr Leben zu retten.
27 Zentimeter Durchmesser
Dabei sehen sie auf den ersten Blick nicht aus, als hätten sie von anderen Meeresbewohnern viel zu befürchten. Die Riesenkalmare der Gattung Architeuthis können mit Tentakeln 13 Meter lang werden, der Koloss-Kalmar Mesonychoteuthis hamiltoni bringt es sogar auf noch eindrucksvollere Maße. Die tellergroßen Augen all dieser zehnarmigen Giganten passen da gut ins Bild. Mit einem Durchmesser von rund 27 Zentimeter sind sie zwei bis drei Mal so groß wie bei anderen großäugigen Tieren, wie Blauwalen oder Schwertfischen. Diese verblüffende Diskrepanz hat Nilsson neugierig gemacht. "Um im Dämmerlicht zu sehen, sind größere Augen besser als kleinere", erläutert der Forscher. "Einfach deshalb, weil sie mehr Licht einfangen."
Doch ab einer bestimmten Größe macht sich dieser Vorteil kaum noch bemerkbar, zeigen die Computermodelle des Teams. "Für Wasserbewohner lohnen sich eigentlich keine Augen, die wesentlich größer als Orangen sind", so Nilsson. Um noch gigantischere Sehorgane zu entwickeln und zu unterhalten, müsste ein Tier also reichlich Energie investieren, ohne viel davon zu haben. Einer solchen Ressourcenverschwendung schiebt die Evolution normalerweise einen Riegel vor. Bleibt also die Möglichkeit, dass Riesen- und Koloss-Kalmare etwas ganz Spezielles sehen müssen. Was aber könnte das sein?
Die Forscher ließen ihre Computer alle möglichen Situationen durchrechnen, in die ein Kalmar kommen kann: So ging es bei verschiedenen Lichtverhältnissen darum, kleinere Gegenstände wie schmackhafte Fische zu entdecken. Dann wieder war das Objekt so groß wie der Kalmar selbst - auch Artgenossen können ja als Rivalen oder Paarungspartner ein interessanter Anblick sein. Doch nur in einem einzigen Fall schnitten die virtuellen Riesenaugen besser ab als die orangengroßen Versionen: Sehr große Objekte können sie offenbar aus weiterer Entfernung wahrnehmen. Und das kann für einen Kalmar lebenswichtig sein.
Denn die Riesen der Tiefsee haben einen ebenfalls gigantischen Feind: den Pottwal. Wenn diese bis zu 18 Meter langen Meeressäuger in ihre Jagdgründe hinab tauchen, wirbeln sie dabei Plankton auf. Manche dieser winzigen Organismen reagieren darauf, indem sie Licht aussenden. "Diese sogenannte Bioluminiszenz kann nachts ein tauchendes U-Boot sichtbar machen", erläutert Nilsson. Oder eben einen jagenden Wal in der Finsternis der Tiefsee. Dank ihrer tellergroßen Augen können die Kalmare diesen Gegner bereits aus rund 120 Meter Entfernung erkennen, zeigen die Simulationen. Vielleicht reicht das noch für eine schnelle Flucht.
Mit einem ähnlichen Frühwarnsystem könnten sich nach Ansicht der Forscher auch die Ichthyosaurier vor räuberischen Meeresbewohnern in Sicherheit gebracht haben. Diese delfinähnlichen Tiere schwammen mehr als 150 Millionen Jahre lang durch die Meere, bis sie vor etwa 93 Millionen Jahren ausstarben. Und sie waren die einzigen bisher bekannten Lebewesen, deren Augen sich mit denen der Tiefsee-Kalmare messen konnten. Vielleicht hatten ja auch sie Angst vor Feinden im XXL-Format.