Schwere Krisen überlagern die EU-Ratspräsidentschaft der Niederlande. Die grassierende Euro-Skepsis macht auch vor dem neuen Vorsitzland nicht halt.
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Den Haag. Am 1. Jänner haben die Niederlande von Luxemburg den turnusmäßigen Vorsitz des Europäischen Rats übernommen. Festtagsstimmung herrscht in Den Haag allerdings nicht: eine "nüchterne Präsidentschaft" kündigte Außenminister Bert Koenders an. Nach den milliardenschweren Sparprogrammen der letzten Jahre ist das Budget (46 Millionen Euro) im Vergleich zum letzten Vorsitz 2004 halbiert. Während damals EU-Veranstaltungen mit großem Aufwand überall im Land stattfanden, dient diesmal ein vorübergehend konstruiertes "Europagebäude" beim Amsterdamer Schifffahrtsmuseum als Haupt- Versammlungsort.
Terrorbekämpfung und
Asylpolitik
Für gedämpfte Stimmung sorgt aber auch die EU-Agenda, die auch 2016 im Zeichen von Terror- Bekämpfung und einem Ringen um gemeinsame Ansätze in der Migrationspolitik stehen wird. Die fragile wirtschaftliche Lage und die Debatte um einen möglichen EU-Austritt Großbritanniens komplettieren das äußerst sensible Koordinatensystem der niederländischen Präsidentschaft.
Im EU-Parlament in Brüssel betonte Koenders zuletzt die Unerlässlichkeit eines gemeinsamen Vorgehens. Die Niederlande, so der Sozialdemokrat, wollten daher die Einheit unter den Mitgliedsstaaten fördern. Doch jenseits der offiziellen Rhetorik spiegelt schon die Agenda Den Haags die Brisanz dieses Vornehmens wider. Die Prioritätenliste umfasst die Förderung von Binnenmarkt, Wachstum, Arbeitsplätzen und Innovation, das "Aktivieren und Beschützen der EU-Bürger" sowie eine zukunftsgerichtete Klima- und Energiepolitik. Und dann ist da noch das Ziel, die europäische Zusammenarbeit zu verbessern.
Man kennt diesen Duktus bereits von der regierenden liberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD). Er impliziert eine klare Aufgabenteilung: Kooperation, wo sie vermeintlich wirkungsvoll ist, ansonsten aber geht der Trend zurück zu mehr Befugnissen für die nationalen Parlamente. Premier Mark Rutte hat um seine Vorliebe für eine EU auf Diät selten einen Hehl gemacht. Ende des Jahres gab er vor niederländischen Journalisten unumwunden zu: "Wenn das EU-Parlament meckert, weil es zu wenig Gesetzesvorschläge bekommt, jubel ich." Weiterhin sagte Rutte, "große Visionen" seien zur Zeit nicht angesagt für Europa. Vielmehr werde sich die Präsidentschaft seiner Regierung um Pragmatismus drehen, Darunter fällt zweifellos die Frage, wie viel common ground unter den Mitgliedsstaaten überhaupt noch vorhanden ist. Angesichts der sich aufdrängenden Brexit-Debatte und der zunehmenden Bruchlinien zwischen Alt-EU und den östlichen Mitgliedsstaaten gilt es enorme Zentrifugalkräfte zu bändigen.
Brisanz liegt dabei in der ambivalenten Rolle der Vorsitzenden selbst: einerseits will man in Assistenz des ständigen Präsidenten Donald Tusk vermitteln und nach Kompromissen suchen, andererseits symbolisiert gerade ein niederländisches Projekt die schwindende europäische Animo: das für Anfang April vorgesehene Referendum über das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Es geht zurück auf eine Unterschriftensammlung euroskeptischer Bürgerinitiativen sowie der Website GeenStijl.nl. Das Ergebnis der Abstimmung ist nicht bindend, wiegt aber symbolisch umso schwerer, zumal während der niederländischen Präsidentschaft. Von der euroskeptischen Konjunktur im Land zeugt nicht zuletzt die unangefochtene Stellung der rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid (PVV). Seit Monaten liegt sie in allen Umfragen weit vorne. Momentan präsentiert sich diese vor allem als Anwalt aller, denen die Flüchtlings- Aufnahme in den Niederlanden zu weit geht.
In den letzten Jahren allerdings schärfte die PVV ihr Profil auch durch einen entschiedenen Kurs gegen den vermeintlich undemokratischen "europäischen Superstaat". Ihr europäisches Programm umfasst ganze fünf Buchstaben: "Nexit". Im EU-Parlament bildet sie mit dem Front National das Rückgrat der Rechts- Fraktion "Europa der Nationen und Freiheiten".
Für die EU geht es um Sein oder Nicht-Sein
Ein Blick auf die Umstände der letzten niederländischen Ratspräsidentschaft 2004 macht deutlich, welche Herausforderungen der EU in den kommenden sechs Monaten ins Haus stehen: die Union befand sich damals in den entscheidenden Verhandlungs- Schritten der letzten Runde ihrer Osterweiterung. Es ging um die späteren Mitglieder Bulgarien, Rumänien und Kroatien. Griechenland war vor allem ein Urlaubsziel, die Finanzkrise so unbekannt wie die Begriffe Grexit oder Brexit, und selbst das krachende allererste Fanal der Euroskepsis, die französische und niederländische Ablehnung des europäischen Grundvertrags 2005, ahnten die wenigsten. Frans Timmermans, niederländischer Ex-Außenminister und heutige Vizepräsident der EU-Kommission, sagte unlängst bei einer Lesung in Amsterdam: "Zum ersten Mal in meinem bewussten Erleben der europäischen Zusammenarbeit denke ich, dass sie wirklich einmal stranden könnte."