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Den Jahren mehr Leben geben

Von Heiner Boberski

Wissen
Nicht nur im Alter kommt es darauf an, die richtige Balance zwischen Aktivität und Entspannung zu finden.
© © © Frank Lukasseck/Corbis

Erfolgsgeheimnisse für das Alter: Offen für Neues sein, aber auch seine Grenzen kennen.


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Kein Lebewesen ist sich des Todes, der ihm einmal bevorsteht, so bewusst wie der Mensch. Es liegt auf der Hand, dass dieses Bewusstsein im Lauf des Lebens stärker wird. Immer öfter registriert man das Sterben von Menschen der eigenen Altersgruppe, immer deutlicher spürt man, wie der eigene Körper an Leistungsfähigkeit verliert und an Gebrechlichkeit zunimmt. Der Prozess des Alterns lässt sich nicht aufhalten, aber die Frage, wie man mit diesem Prozess umgeht, ist in einer Zeit, in der die Lebenserwartung so hoch wie nie zuvor liegt, aktueller denn je. Für Österreich beträgt die Lebenserwartung, beruhend auf der Statistik-Austria-Bilanz für das Jahr 2010, für Männer 77,7 und für Frauen 83,2 Jahre, das sind etwa elf Jahre mehr als vor 50 Jahren.

Die Wirtschaft, die lange Zeit vor allem die junge Generation umworben hat, nimmt schon seit geraumer Zeit auch die Senioren verstärkt ins Visier. Erstens ist ihr Anteil deutlich gestiegen - vor 100 Jahren waren fünf Prozent der Bevölkerung älter als 60 Jahre, heute sind es 25 Prozent -, und zweitens handelt es sich um eine relativ kaufkräftige Altersgruppe. Im Ruhestand, aber auch schon knapp davor, wird viel Geld in die eigene Gesundheit, in Reisen in die fernsten Regionen, in den Besuch von Kursen und Kulturveranstaltungen aller Art, in die Verschönerung von Garten und Eigenheim - aber oft natürlich auch in die Enkel - investiert.

Als jung fühlen sich nur

31 Prozent der Österreicher

Aktuelle Bücher mit Titeln wie "Die zweite Halbzeit entscheidet" (von Markus Hofer), "Das vierte Quartal" (von Hans Günter Gassen) oder "Im Alter noch einmal leben" (von Leopold Rosenmayr) sind logische Angebote für die wachsende Zahl von Menschen, die nicht nur die Jahre vergehen lassen, sondern sich aktiv mit ihrem Altern befassen wollen. Das heißt keineswegs, dass sie sich selbst als alt einschätzen müssen. Allerdings fühlen sich laut einer erst Mitte Jänner 2012 veröffentlichten Eurobarometer-Umfrage nur 31 Prozent der Österreicher als jung; lediglich Deutschland weist mit 27 Prozent einen noch niedrigeren Wert auf. Im Durchschnitt meinen die Europäer, dass man etwa ab dem 64. Lebensjahr als alt und bis zum Alter von 41,8 Jahren als jung anzusehen ist.

Vor allem dank der modernen Medizin ist es gelungen, dem Leben zusätzliche Jahre zu geben. Es liegt aber an den einzelnen Menschen, diesen Jahren auch mehr Leben zu geben. Der Innsbrucker Pathologe und Altersforscher Georg Wick prägte dafür die Formel der 3 L: Laufen, Lernen und Lieben. Wer körperlich in Bewegung und geistig aufnahmebereit für Neues bleibt sowie emotionale Zuwendung gibt und bekommt, hat eindeutig bessere Chancen, fit und zufrieden seinen Lebensabend zu verbringen, als jemand, der körperlich träge, geistig lethargisch und ohne auf Sympathie beruhende Sozialkontakte sein Seniorendasein fristet. Nicht zu kurz kommen sollte auch ein viertes L, das Lachen, also der Humor: Wer nichts zu lachen hat, dem vergeht mit der Zeit die Freude am Leben, und das wirkt sich meist auch körperlich negativ aus.

Wie und warum sich unser Körper im Alter verändert, legt das Buch "Das vierte Quartal" anschaulich dar. Äußerlich können wir selbst es im Lauf der Jahre an (faltig werdender) Haut und (lichter und spärlicher werdenden) Haaren erkennen, und dort setzen ja auch die heute so modernen "Anti Aging"-Produkte vornehmlich an. Dass gleichzeitig auch im Inneren ein Alterungsprozess stattfindet, der sich auf alles von Gewebe und Knochen über Gelenke und Muskeln bis zum Blutkreislauf und den inneren Organen mehr oder weniger intensiv auswirkt, machen wir uns weniger bewusst, bekommen wir im Lauf der Jahre aber immer mehr zu spüren. "Wer mit 50 aufwacht und es tut ihm gar nichts weh, ist tot" lautet ein Bonmot, das sicher übertrieben ist, aber andeutet, ab welchem Alter es im Durchschnitt kritisch zu werden beginnt und äußerst ratsam ist, medizinische Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch zu nehmen.

"Man sollte sich davor hüten, allgemeingültige Regeln für die Lebensqualität im vierten Quartal aufstellen zu wollen", schreibt Hans Günter Gassen und gibt daher nur medizinisch gut begründete Empfehlungen ab. Dazu gehört Bewegung, am besten tägliches Spazierengehen oder auch, solange es schmerzfrei möglich ist, richtiger Ausdauersport (Laufen, Radfahren, Schwimmen) - aber mit Maß und Ziel: "So gut es ist, seinen Körper mit sportlichen Aufgaben zu konfrontieren, so katastrophal kann sich eine Überforderung des gegebenen Leistungsvermögens auswirken."

Der gereifte Mensch muss sich nichts mehr beweisen

Leopold Rosenmayr, 86-jähriger Altersforscher und Nestor der österreichischen Soziologen, befürwortet Aktivität im Alter, erinnert aber an die altgriechische Weisheit "Medén agán" (Niemals zu viel, nichts allzu sehr): "Halte Dich immer, aber besonders im Alter, innerhalb der Grenzen Deiner Fähigkeiten! Mute Dir nicht zu viel zu!" Vielleicht besteht die Weisheit des Alters (und auch das Geheimnis des Altwerdens) gerade darin, dass man gelernt hat, mit seinen Grenzen umzugehen, die man als junger Mensch gerne auslotet und auch überschreitet.

Der gereifte Mensch muss sportlich keine Rekorde mehr aufstellen, muss sich keine Nächte mehr um die Ohren schlagen, sich nicht mehr als besonders trinkfest zeigen. Er muss sich vieles nicht mehr beweisen, wie Markus Hofer in seinem vorwiegend, aber nicht nur, an Männer ab 40 gerichteten Buch betont. Wer sich in der "zweiten Halbzeit" fühlt, sollte sich neuen Zielen, vor allem neuen geistigen Herausforderungen, zuwenden.

"Noch einmal leben", so Rosenmayr, habe eine Erfolgs-Voraussetzung: "Es sind dies die Selbstprüfung, besonders die Prüfung der Absichten und der zu diesen gehörigen Motivationen, wie auch der vorhandenen Kapazitäten und Kompetenzen. Kann sich der Mensch als verbesserungsfähiges Wesen begreifen, dann erst vermag ein Neubeginn mit sich selbst und in sich selbst als Glücksbahn erschlossen werden. Wer nur in die eigenen ausgetretenen Stapfen tritt, wird trotz schöpferischer Absichten keinen Wandel als Glückserlebnis oder Kreativität in sich selbst erreichen können."

Wie dieser Neubeginn aussieht, wird je nach Interessen individuell sehr verschieden sein, kann sich aber häufig auf das beziehen, was Menschen jahrelang vor sich hergeschoben haben. Ein erfülltes Alter geht oft mit anhaltender Lernbereitschaft und Lernfähigkeit einher. Wollte ich nicht immer schon ein Instrument spielen lernen? Lassen sich nicht auch in der Pension Sprach- oder Kochkurse, Tanzunterricht oder Heimwerkerausbildungen nachholen? Habe ich nicht schon oft daran gedacht, meinen Stammbaum zu erforschen, meine Briefmarkensammlung wieder hervorzuholen? Wollte ich nicht immer schon bestimmte Länder bereisen, andere Kulturen kennenlernen? Rosenmayrs Buch hebt dabei auch hervor, wie viel Gewinn man im Alter noch aus der Weisheit fremder Völker oder aus uralten Texten (etwa aus dem 5000 Jahre alten Gilgamesch-Epos, dessen Held die Unsterblichkeit sucht und die soziale Verantwortung entdeckt) ziehen kann.

Klischeevorstellungen über Jugend und Alter sind überholt. Es gibt in allen Altersstadien arme und reiche, dumme und kluge, kranke und gesunde, hässliche und attraktive, aber auch gefühlskalte und liebevolle Menschen. Wie der aktuelle Film "Anfang 80" mit Christine Ostermayer und Karl Merkatz zeigt, ist auch Erotik im Alter kein Tabu-Thema mehr. Aus frischer Verliebtheit können auch Senioren neuen Elan gewinnen. Wie es in langjährigen Partnerschaften immer wieder Frühling werden kann, hat der Filmregisseur Max Ophüls schon vor Jahrzehnten im Sinne von Rosenmayrs "Im Alter noch einmal leben" so auf den Punkt gebracht: "Es ist das Geheimnis einer guten Ehe, einer Serienaufführung immer wieder Premierenstimmung zu geben."